ANALYSE. Vor vier Jahren haben Landeshauptmänner die Partei Kurz allein übergeben. Bedingungslos, schriftlich. Jetzt werden sie ihn nicht nur nicht los: Ohne ihn müssten sie wieder bei null anfangen.
Der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) hat im Ö1-Mittagsjourmal gerade gemeint, dass sich der Regierungschef sein Team selbst zusammenstelle, also wohl auch für die türkisen Ministerinnen und Minister zuständig sei. Das ist Wunschdenken. Schützenhöfer vergisst, was er und alle anderen ÖVP-Vorstandsmitglieder von West bis Ost, von Markus Wallner bis Johanna Mikl-Leitner, vor vier Jahren dem Bundesparteiobmann zugestanden haben; und zwar schriftlich: Dieser dürfe bei Wahlen mit einer eigenen Liste antreten, die von der ÖVP unterstützt werde. Zudem habe er freie Hand für die Verhandlung von Koalitionen und könne sich das Regierungsteam selbst zusammenstellen. Ganz, wie es ihm gefällt. Obmann ist und bleibt – damit hier kein Missverständnis entsteht – Sebastian Kurz. Bundeskanzler Alexander Schallenberg ist es nicht.
Die schwarz-türkise „Realverfassung“ mag künftig mehr und mehr von den sieben Zugeständnissen abweichen, die Schützenhöfer und Co., in Hilflosigkeit und Euphorie gleichermaßen, Kurz im Frühjahr 2017 gemacht haben. Die Partei lag damals am Boden. Wie man heute weiß, ist sie auch von Kurz zugrunde gerichtet worden. Kurz hatte im Vergleich umso bessere Umfragewerte (nicht nur in der Tageszeitung „Österreich“). Also haben sie ihm alles übergeben. Und zwar wirklich alles.
Diese Umstände lassen erahnen, wie groß die ÖVP-Krise heute wirklich ist: Sebastian Kurz könnte Neuwahlen provozieren, eine neue Liste gründen und einfordern, dass sie von den Schwarzen unterstützt wird. Er könnte zudem Schallenberg „entlassen“ und, wenn schon nicht sich selbst, dann einen ganz anderen Mann oder eine Frau an die Regierungsspitze hieven. Eher als die Landesobleute und übrigen Parteivorstandsmitglieder, die mehr und mehr auf Distanz zu ihrem Allmächtigen gehen, könnte dies der Bundespräsident verhindern, der nun ja mehr denn je Wert auf tadellose Persönlichkeiten legt.
Die erwähnten Umstände erklären ein Stück weit, warum sich die Wallners, Schützenhöfers und Mikl-Leitners so schwer damit tun, aus der gegenwärtigen Misere herauszukommen. Wenn’s hart auf hart geht, müssten sie gegenüber Kurz wortbrüchig werden. Doch das wäre noch das Leichteste. Schwerwiegender ist, dass sie sich de facto um die Neugründung der Bundesorganisation kümmern müssten. Von A bis Z. Von Finanzen bis Personal. Schlimmer: Wenn man sich anschaut, wie viel Kredite in den vergangenen Jahren für kostspielige Wahlkämpfe aufgenommen wurden (31 Millionen Euro) und wie wenig zurückbezahlt worden ist (zehn Millionen Euro), müsste man sich wundern, wenn es große Reserven geben würde.
Wahlerfolge erzielt hat die ÖVP unter Kurz als „bessere“ FPÖ: Indem sie die bekannten Positionen zu Flucht und Migration eingenommen hat, hat sie den Freiheitlichen laut SORA-Analysen hunderttausende Wähler abgenommen. Nach Kurz gibt es hier nur zwei Möglichkeiten: Seinen Kurs fortsetzen oder Änderungen mit dem Risiko vornehmen, dass massive Stimmenverluste damit einhergehen.
Schwacher Trost für die Schwarzen, die lieber keine türkise Volkspartei (mehr) sein möchten: Praktisch ist es natürlich auch für Kurz aussichtslos ohne Unterstützung der „alten“ ÖVP in den Ländern. Schon in der Pandemie, als Tiroler Abgeordnete aufgrund von Verschärfungen drohten, sich im Nationalrat zu verselbstständigen, wurde das deutlich: Damit wäre die türkis-grüne Mehrheit verloren gewesen.
Bei seinen Touren durchs Land, die Sebastian Kurz laut „Österreich“ zu seiner Rehabilitation schon plant, wird er kaum von freundlichen Landeshauptleuten begleitet werden und stolze Bühnen mit großen Publikum vorfinden. Man kann es sich kaum vorstellen. Oder doch? Vielleicht sind die kläglichen Versuche von Ex-Vizekanzler und -FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020, auf sich allein gestellt an frühere Erfolge anzuschließen, ein Hinweins darauf, worauf sich Kurz einstellen muss, wenn er nicht einsehen möchte, dass seine Zeit in der Politik abgelaufen ist.
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