ANALYSE. Nichts sagt über den Zustand der ÖVP mehr aus als der Umgang mit dem SPÖ-Vorsitzenden. Es ist eine Kombination aus Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Ob denn die SPÖ-Mitglieder, „die den ungelernten, ungebildeten und unwissenden“ Andreas Babler zum Parteivorsitzenden wählten, „noch dümmer“ als dieser seien „oder einfach nur geblendet von der Wunderwelt“, die er ihnen verspreche? „Oder rühren seine Tränen so sehr zu Herzen, dass man den Verstand abgibt?“, so der ÖVP-nahe PR-Berater Thomas Neuhauser am Wochenende auf Twitter (X): Die rhetorischen Fragen waren ein Statement. Ebenso wie der Leitartikel von Hubert Patterer in der „Kleinen Zeitung“, der in Bablers Parteitagsrede ein „antikapitalistisches Semperit Medly“ ortete und bezweifelte, dass der SPÖ-Vorsitzende so anschlussfähig bleibt. Sprich, dass er bei Wahlen erfolgreich sein und eines Tages Kanzler werden kann.
Das lässt tief blicken. Selbstverständlich ist Babler kein Vertreter einer klassischen Mitte. Natürlich vertritt er linke Positionen und das auch noch leidenschaftlich. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich Bürgerliche eher über den SPÖ-Vorsitzenden empört geben als über die Freiheitlichen von Herbert Kickl. Beziehungsweise dass sie glauben, darauf setzen zu können, dass sie sich letzten Endes vielleicht noch einmal in bloßer Abgrenzung von beiden im Sinne „Normaldenkender“ als gemäßigte Kraft behaupten könnten. Das ist jedoch ein Irrtum. Es reicht nicht.
In Wirklichkeit ist der Zustand der ÖVP sowie die Ausrichtung von Babler einer- und Kickl andererseits Ausdruck einer großen Krise. Erstens: Die Volkspartei hat sich mit Sebastian Kurz aufgegeben als politische Kraft. Er hat alte Hüte, wie das ewige Entlastungsversprechen, nur neu und besser im Sinne von Wahlerfolgen verkauft. Dafür getan hat er dann jedoch nichts. Nicht wenige Wähler hatten alles in allem sehr große Hoffnungen in ihn gesetzt. Geblieben sind Enttäuschungen. Unter Karl Nehammer wiederholt die Partei, sofern sie Kurz nicht gerade verteidigt, jedoch bloß die immergleichen Slogans: „Leistung muss sich lohnen“ etc. Glauben tut das kaum noch jemand. Wie auch? Seit Jahren stellt die ÖVP den Finanzminister. Die Steuer- und Abgabenquote ist jedoch so hoch geblieben wie in kaum einem anderen europäischen Land – und wird es laut langfristiger Budgetprognose von Magnus Brunner auch bleiben.
Zweitens: Was macht Babler, was tut Kickl? Beide spitzen unterschiedliches zu. Kickl greift eine seit der Corona-Pandemie verbreitete Absage an das auf, was in Teilen der Gesellschaft als die Politik wahrgenommen wird und er als „das System“ bezeichnet. Das will er zerstören.
Babler versucht wiederum, nicht nur jene anzusprechen, die sich kein warmes Essen für ihre Kinder leisten können. Damit allein wäre wenig zu holen. Seine Zielgruppe geht weit darüber hinaus: Die vielen Männer und Frauen zählen dazu, denen wachsende Unsicherheiten und Befürchtungen zusetzen, wonach sich Entscheidendes verschlechtern könnte. Die unter diesen Umständen umso mehr auf Umverteilungs- oder „Eat the Rich“-Ansagen ansprechen. Oder Erinnerungen an Bruno Kreisky. Sie stehen in den Augen vieler für eine bessere, eine gute Zeit.
Drittens: Babler und Kickl sind in ihrer Verschiedenheit wie gesagt Ausdruck einer großen Krise. Bezeichnend: Ihre Parteien halten zusammen deutlich mehr als 50 Prozent. Die ÖVP hingegen kommt auf kaum mehr als 20 bzw. weniger als die FPÖ und eher auch als die SPÖ: Da fällt ihr nicht mehr ein, als Kickl als Kanzler auszuschließen und sich über Babler entrüstet zu geben, weil er ihr zu weit links stehe? Da wundert sie sich nicht darüber, dass ihr beides auch nach mehreren Monaten keinen nennenswerten Zuspruch beschert?
Wenn hier jemand ein Anschlussproblem hat, dann ist es die ÖVP: Sie schafft es nicht, ein glaubwürdiges Programm zu erstellen, das sich Wesentlich von Freiheitlichen und Sozialdemokraten unterscheidet. Das liegt daran, dass sie sich nicht einmal mehr die Mühe um ein solches macht; dass sie mit Kurz selbst auf einen Mann gesetzt hat, der mit Politik am liebsten gar nicht in Verbindung gebracht werden wollte und seine Verachtung ganz besonders auch gegenüber dem Parlament nicht verbergen konnte; und zum anderen daran, dass sie in Wirklichkeit selbst einen starken Staat pflegt, der dort, wo es ihr wichtig ist, Vollkasko-Züge hat.