Van der Bellens gute Chance

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ANALYSE. Zu selten hat ein Bundespräsident in der Geschichte der Zweiten Republik aktiv sein können. Jetzt ändert sich das mehr denn je – das ist auch im Sinne der Demokratie.

Über viele Jahre hinweg hatte der Bundespräsident nicht mehr als eine statutarische Funktion bei Regierungsbildungen. Ist ja klar: Wenn es nur zwei große Parteien gibt, die ohnehin einem sozialpartnerschaftlichen Geist verpflichtet sind, ist es naheliegend, dem Chef der stärkeren den Auftrag zu erteilen; ist es naheliegend, dass es nach ein paar Wochen zur Angelobung kommt. Noch einfacher ist das, wenn eine der beiden Parteien über eine absolute Mehrheit verfügt.

So war das, vereinfacht ausgedrückt, in der Zweiten Republik, in der heute ab 40-, 50-Jährige aufgewachsen sind. Vor allem seit den 2000ern ist vieles anders geworden. Und jetzt ist überhaupt alles ganz besonders: Es gibt eine stärkste Partei, mit deren Obmann niemand direkt zusammenarbeiten möchte (SPÖ, Grüne und Neos wollen es im Unterschied zur ÖVP auch mit der Partei nicht). Zwischen ÖVP und SPÖ wiederum sind nur noch Reste eines sozialpartnerschaftlichen Geistes wahrnehmbar, dass ihre Vorsitzenden Karl Nehammer und Andreas Babler gemeinsam ein Kabinett bilden und dann führen könnten, ist schwer bis gar nicht vorstellbar.

Das alles ist dazu angetan, dem Bundespräsidenten eine Bedeutung zukommen zu lassen, die demokratiepolitisch nur gut ist: Das ist kein „Grüß August“, der protokollarische Aufgaben erfüllt. Er ist gerade auch bei einer Regierungsbildung relevant. Und zwar nicht mit, sondern „auf Augenhöhe“ neben dem Nationalrat.

Das wird gerne übersehen: Gefühlsmäßig wird bei Nationalratswahlen der Kanzler bestimmt. Das ist darauf zurückzuführen, dass es Spitzenkandidaten gibt, die sich als Kanzlerkandidaten ausgeben und regelmäßig auch von einem „Kanzlerduell“ die Rede ist. Es hat im Übrigen damit zu tun, dass sich einzelne Kandidaten anmaßen, dem Bundespräsidenten auszurichten, es sei gute Tradition, dass er dem Ersten unter ihresgleuchen den Regierungsbildungsauftrag erteile.

Das ist eine Frechheit: Der Bundespräsident ist mit einer absoluten Mehrheit direkt gewählt und schöpft daraus maximal mögliche demokratische Legitimation. Bei Regierungsbildungen ist er eigenständiger Akteur, der im Grund genommen nur berücksichtigen muss, dass es am Ende auch eine parlamentarische Mehrheit gibt.

Er hat sich von keinem Parteienvertreter etwas sagen zu lassen. Er hat vielmehr nach Prinzipien vorzugehen, die sich in einem Rahmen befinden, der durch die Verfassung abgesteckt ist. Van der Bellen macht das ausgezeichnet. Von ihm kann man lernen. Er sagt sinngemäß nicht: „Ich mag Freiheitliche nicht, die sind mir zu extrem und daher werde ich alles tun, damit sie keine Macht bekommen.“ Er sagt vielmehr: „Ich werde nach bestem Wissen und Gewissen darauf achten, dass bei der Regierungsbildung die Grundpfeiler unserer liberalen Demokratie respektiert werden: etwa Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Menschen- und Minderheitenrechte, unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft.“

Das schließt Kickl aus, ist jedoch begründet. Es geht nicht darum, dass er andere Positionen vertritt, sondern dass er Fundamentales infrage stellt. Wie ein Fußballspieler, der dem Schiedsrichter den Rücken kehrt und beginnt, Rugby zu spielen. Derlei darf ein Bundespräsident auf dem Feld, für das er Verantwortung trägt, nicht zulassen.

Die Vorstellung, dass er einen sogenannten Wählerwillen zu akzeptieren habe (den es in Wirklichkeit nie so einfach gibt), dass er also auf Basis eines Nationalratswahlergebnisses den Stärksten zum Kanzler zu machen habe, hat nebenbei bemerkt mit einem entlarvenden Verständnis von Parlamentarismus zu tun. Der Nationalrat ist demnach seinerseits bloß Erfüllungsgehilfe der Regierung, die Opposition ebendort nur bedeutungsloses Beiwerk. Gefragt wäre jedoch ein selbstbewusstes Parlament, gefragt wären auch Nationalratsabgeordnete aus den Reihen der Regierungsfraktionen, die Kanzler und Co. fordern.

Der Bundespräsident darf aufgrund der Umstände jetzt also endlich das tun, wozu er unter anderem gewählt worden ist. Bei Van der Bellen bedeutet das nicht nur, keinen autoritären „Volkskanzler“ zuzulassen, der sich vorbehält, eines Tages einen EU-Austritt anzugehen, den ORF de facto abzuschaffen und andere Dinge zu tun, sondern mehr.

Er ist im Übrigen mit Türkisen und Roten konfrontiert, die auf Führungsebene ein Problem miteinander haben. Was ihn zu einer weiteren aktiven Rolle zwingt: Er muss Kräfte aus ÖVP und aus SPÖ zueinander bringen, damit eine Koalition entstehen kann. Wobei er durchaus Druck machen und wirkungsstark werden kann: Ein Herbert Kickl in Regierungsfunktion wird schließlich auch von ihnen abgelehnt.

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