ANALYSE. ÖVP-Generalsekretär sieht den demokratischen Parlamentarismus durch Klimaaktivsten bedroht. Seine mächtigste Parteifreundin pfeift auf diesen.
ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker äußert sich besorgt um den „demokratischen Parlamentarismus“. Wörtlich schreibt er in einer Aussendung: Die Klimakleber streben unter dem Deckmantel des Klimaschutzes einen politischen Systemwechsel an: Weg vom demokratischen Parlamentarismus, hin zu einem sogenannten Bürgerinnenrat, der politische Entscheidungen treffen soll. Wer in dieses Bürger-Kollektiv aufgenommen wird, soll laut einer Vertreterin der ‚Letzten Generation‘ dem Zufall überlassen und ausgelost werden. Mit einer Räte-Republik hat auch die Sowjetunion begonnen.“
Abgesehen davon, dass das zu einer Kriminalisierung von „Klimaklebern“ passt, wie sie von der wahlkämpfenden Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) aus Niederösterreich initiiert worden ist, kann man sich aufgrund dieser Formulierungen die Frage stellen: Wie ist die Realverfassung derzeit?
Mikl-Leitner lässt ihren Verfassungsdienst in St. Pölten Haftstrafen für Klimaaktivisten prüfen und kündigt an, Ergebnisse der Regierung in Wien zu übermitteln. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) beauftragt sicherheitshalber gleich Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), sich um das Thema zu kümmern. Da wedelt der Schwanz gleich zwei Mal mit dem Hund.
Wie hier bereits analysiert, kann Nehammer keinem Regierungsmitglied einen Auftrag erteilen. Er ist einer unter Gleichen. Vor allem aber: Wenn Mikl-Leitner ein bestimmtes Gesetz haben möchte, hätte sie einen Weg, sich darum zu bemühen: Als Landesparteiobfrau könnte sie „ihre“ Nationalratsabgeordneten in Wien bitten, einen entsprechenden Antrag einzubringen. Oder: Sie könnte das auch über den Bundesrat versuchen. Das wäre insofern passend, als dieser gerne als die Länderkammer des Parlaments bezeichnet wird.
In Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine vernachlässigte, um nicht zu sagen vergessene Kammer des Parlaments: Funktionen, die über sie erfüllt werden könnten, erledigen Landeshauptleute im besten Fall über die in der Verfassung nicht verankerte Landeshauptleutekonferenz und ansonsten auf dem sogenannten kurzen Weg.
Es handelt sich um eine Umgehung des demokratischen Parlamentarismus. Im Bundesrat sitzen zwar Vertreter, die von den Landtagen bestimmt werden, sie vertreten hier in aller Regel aber nicht Länderinteressen, sondern unterwerfen sich wie Nationalratsabgeordneten einem Klubzwang. Ergebnis: Beschlüsse werden einfach wiederholt, Initiativen finden keine Mehrheit.
Den Bundesrat abschaffen? Eine Option wäre, dem deutschen Modell zu folgen und diese Kammer durch Landeshauptleute bilden zu lassen. Das hätte den Vorteil, dass sie ihre Vorstellungen transparent und so einbringen müssten, dass sie eher zur Verantwortung gezogen werden könnten. Dass sie etwa nicht, wie nach Beschluss der Impfpflicht vor einem Jahr auf ihren Wunsch hin, beim ersten Gegenwind so tun könnten, als hätten sie nichts damit zu tun. Oder dass sich Mikl-Leitner nun einer Debatte über ihre Initiative stellen müsste, Klimaaktivisten mit Haftstrafen zu kommen; und zwar dort, wo das in einer repräsentativen Demokratie hingehört: im Parlament.
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