ANALYSE. In Wien sieht man das ganze Drama der Sozialdemokratie: Sie selbst hat keine mehrheitsfähige Erzählung – und nicht einmal eine Perspektive auf eine Regierung ohne ÖVP oder FPÖ.
Wenn sich eine Partei neu erfinden müsste, dann die Wiener SPÖ: Der gesellschaftliche Wandel der vergangenen Jahre, den sie selbst mitbetrieben hat, bescherte der Stadt einen Arbeiterschwund und ziemlich viele Akademiker. Ja, heute leben dort zwei Mal mehr Hochschulabsolventen (303.000 im Jahr 2015) als Arbeiter (160.000 im Jahr 2017). Viele Bewohner sind im Ausland, zahlreiche in einem anderen Bundesland geboren. Wien hat sie als pulsierende, weltoffene Stadt angezogen.
Jetzt ist die Partei vor einer Richtungsentscheidung gestanden: Soll sie sich auf ihre kleiner werdende Stammwählerschaft beschränken, in der ein guter Teil vor allem die Schattenseiten all dieser Entwicklungen sieht? Oder soll sie auch neuen Gruppen ein Angebot machen; zum Beispiel denen, die noch immer in erster Linie ein chancenreiches, lebenswertes Wien sehen?
SPÖ-Wien-Chef Michael Ludwig hat sich entschieden. Mit seinem „Wiener zuerst“-Kurs startet er ein Programm, das auf ehemalige und noch verbliebene Stammwähler ausgerichtet ist und das eher in Richtung mitte-rechts geht. Aus zwei Gründen:
- Nicht wenige SPÖ-Wähler werden durch ÖVP und FPÖ besser bedient. Und zwar in einer seit geraumer Zeit sehr relevanten Frage. Das kann man etwa aus einer GfK-Austria Wahltagsbefragung zur Nationalratswahl herauslesen: 61 Prozent der SPÖ-Wähler (!) sahen damals „keine Möglichkeit mehr, weitere Flüchtlinge aufzunehmen“. Schwarz-Blau ist die Garantie dafür. Nicht die SPÖ. Ludwig bemüht sich, das zu ändern. Motto: „Seht her, ich kann’s auch.“
- Nach der nächsten Gemeinderatswahl werden ÖVP und FPÖ aus heutiger Sicht bestimmend sein. Will Ludwig das Bürgermeisteramt für sich und die SPÖ retten, braucht er eine der beiden Parteien.
Was naturgemäß auch den Weg für eine Erneuerung der Sozialdemokratie verbaut.
All das steht vor dem Hintergrund des wohl größten Dilemmas, das die Sozialdemokratie hat: Sie selbst hat keine mehrheitsfähige Erzählung zu Migration oder irgendeiner anderen Frage. Und weil Mitte-Links im Moment eine Regierungsmehrheit nicht einmal im Bereich des theoretisch Möglichen scheint, gibt Ludwig gleich klein bei gegenüber Schwarz und Blau, gewisse Inhalte inklusive.
Was naturgemäß den Weg auch für eine Erneuerung der Sozialdemokratie verbaut. Und das in einem urbanen Raum, der in Österreich aufgrund seiner Größe eine besondere Rolle spielt. Und in dem die Sache längerfristig wohl auch nicht aussichtslos wäre. Doch für längerfristige Projekte hat die Partei in Wien keine Zeit mehr, die nächste Gemeinderatswahl findet spätestens 2020 statt. In gut zwei Jahren also.