ANALYSE. Die Bundesregierung hat’s nicht einfach: Auch bei der zweiten Welle haben es Ländervertreter verabsäumt, angemessen auf das Infektionsgeschehen zu reagieren. Jetzt zahlt ganz Österreich drauf.
Die Art und Weise, wie die Pandemie bekämpft werden kann, muss ganz offensichtlich nicht alternativlos sein, wenn früh und vor allem punktgenau gehandelt wird. Die Schweiz beispielsweise ist bis heute zu keinem flächendeckenden Lockdown geschritten. Das ist insofern bemerkenswert, als die Zahl bestätigter Infektionen pro 100.000 Einwohner und Woche dort vorübergehend auf ein noch höheres Niveau geklettert ist als zuletzt in Österreich; als dort schon vor längerer Zeit vor einer Überlastung der Intensivstationen gewarnt wurde; und als dort sogar schon die Armee zur Hilfe eilen musste. Zwei, drei Dinge standen jedoch außer Streit: Aufgrund wirtschaftlicher und sozialer „Kollateralschäden“ gilt es laut einem offiziellen Strategiepapier, einen flächendeckenden Lockdown zu verhindern, wenn es nur irgendwie geht. Außerdem: Die Kantone stehen einander bei, wenn einzelne an ihre Grenzen stoßen. Stand 17. November liegt die erwähnte Inzidenz in der Eidgenossenschaft mit 468 um fast ein Drittel unter dem Höchstwert der zweiten Welle; sie ist also stark zurückgegangen. Lockdowns gibt es nur in einzelnen Kantonen.
Warum Österreich so etwas nicht zusammengebracht hat bzw. von einem leichten zu einem harten, bundesweiten Lockdown schreiten musste? Man könnte damit antworten, dass die Bundesregierung zu lange zugeschaut habe; oder dass sich Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nicht getraut habe, Unpopuläres zu tun. Man sollte sich aber auch die Rolle der Landeshauptleute anschauen.
Alles in allem ist sie in der Krise alles andere als berühmt. Bespiel Günther Platter (ÖVP): Auch unter seiner Verantwortung ist zu Beginn der Pandemie in Ischgl zu lange versucht worden, Gras drüber wachsen zu lassen. Beschwichtigungen der Landessanitätsdirektion, wonach etwa von einem infizierten Barmitarbeiter kein besonders Übertragungsrisiko ausgehe, sind berühmt-berüchtigt. Am Ende hat die Bundesregierung mit Kurz und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) diesem Treiben ein Ende bereiten müssen – und auch Platter hat dann nicht mehr anders können, als zu handeln.
Schlimm ist, dass daraus offenbar keine Lehren gezogen worden sind. Beispiel Vorarlberg: Seit Oktober ist das Infektionsgeschehen dort mehr und mehr außer Kontrolle geraten. Zuletzt waren 850 neue Fälle pro 100.000 Einwohner und Woche erreicht. Die Bundesregierung verkündete tags darauf den harten Lockdown – und Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) begrüßte ihn. Er hat also nur darauf reagiert. Dabei hat sein Land (mit 748) eine um ziemlich genau 100 Prozent höhere Inzidenz als z.B. Niederösterreich (377). Anders ausgedrückt: Er hätte längst doppelten Handlungsbedarf gehabt (siehe Grafik).
Man muss sich die Frage stellen, wozu solche Landespolitiker überhaupt nötig sind. Ihren Job könnten Bundesbeamte genauso gut erledigen. Auch sie würden warten, bis „Wien“ die Notbremse zieht und im Übrigen vorschriftsgemäß tun, was zu tun ist, also genügend Kapazitäten zur Kontaktnachverfolgung sowie zur Behandlung von Spitalspatienten organisieren etc. Schlechter erledigen würden sie diesen Job jedenfalls kaum; zuletzt war ein Land nach dem anderen überfordert. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hat am Wochenende seinen Unmut darüber zum Ausdruck gebracht; zurecht.
Was Landeshauptleute wie Wallner, aber auch Thomas Stelzer (OÖ) vernachlässigt oder gar unterlassen haben, ist jedoch zumindest ebenso wichtig, wenn nicht überhaupt entscheidend: Sie hätten sich längst für Lockdowns in ihren Ländern aussprechen und sich immer wieder vor ihre Bürgerinnen und Bürger stellen müssen, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen; bis es der oder die Letzte versteht. Aus vielen Glutnestern hätte sich dann möglicherweise kein bundesweiter Flächenbrand entwickelt.
Jedenfalls aber wäre es ungleich wirkungsvoller gewesen als Pressekonferenzen und Appelle eines türkisen Kanzlers und eines grünen Gesundheitsministers: Über viele Jahre hinweg haben sich Landeshauptleute so intensiv als Wohltäter profiliert, dass sie über Persönlichkeitswerte verfügen, von denen Kurz und Anschober nicht einmal träumen können. Laut SORA-Befragungen bei Landtagswahlen würde Wallner in Vorarlberg von 55 Prozent direkt zum Landeshauptmann gewählt werden und Hans Peter Doskozil am anderen Ende der Republik, im Burgenland, von 56 Prozent. Das ist nicht nur schön für die beiden; es wäre auch eine Verpflichtung.
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