ANALYSE. Sebastian Kurz sagt, dass er schon früher zu härteren Maßnahmen geschritten wäre. Und kaum jemand wundert sich. Als CEO wäre er gefeuert.
Am 17. Oktober 2020 hielt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine bemerkenswerte Rede: Sie appellierte an die Bürger, zu Hause zu bleiben. Grund: Das Infektionsgeschehen habe stark zugenommen; es gelte, Schlimmeres zu verhindern. Deutschland lag damals bei rund 40 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche. In Worten: Vierzig! Das ist ein Niveau, bei dem Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) heute findet, dass es wieder möglich wäre, frohen Weihnachten zu feiern.
Es ist schon seltsam, das Ganze. Wie auch immer: Deutschland hat es geschafft, die Inzidenz auf einem vier Mal niedrigeren Niveau als der amtierende „Weltmeister“ in dieser „Disziplin“ zu halten: Ja, von Österreich ist die Rede. In Deutschland haben sich die Zahlen in den vergangenen Tagen stabilisiert; von einem verschärften Lockdown scheint man weit entfernt zu sein. Österreich sieht sich zu einem solchen gezwungen; das wird Spitäler entlasten, aber tausende Arbeitsplätze kosten und viel mehr Menschen noch ärmer und verzweifelter machen.
Doch was sagt Sebastian Kurz dazu, der im Frühjahr immer wieder behauptete, dass „wir“ gut bzw. besser als andere durch die Krise gekommen seien? Er, Kurz, wäre schon früher zu härteren Maßnahmen geschritten. Sprich: Wenn’s nach ihm gegangen wäre, wäre uns das alles erspart geblieben. Aber es gibt halt einen Koalitionspartner, Landeshauptleute und zahllose Interessensvertreter, die sich querlegen. Und nicht zu vergessen: die Bevölkerung. Sie wäre vor einigen Wochen auch „noch nicht bereit“ gewesen, so Kurz in einer subtilen Publikumsbeschimpfung im Rahmen der ORF-Pressestunde.
Weiß der Kanzler eigentlich, was er da sagt? Als CEO eines Konzerns wäre er jetzt erst recht gefeuert: Die Erklärung, dass er selbst die tollsten Ideen gehabt habe, falsche Entscheidungen irgendwelcher Produktmanager aber zu einem schlechten Ergebnis geführt hätten, würde ihn nicht retten. Im Gegenteil, sie würde als schäbige Ausrede gewertet werden, die Abgründe freilegt: Der Mann steht nicht hinter seinen Leuten. Er hat null Leadership und gibt selbst zu, dass er sich nicht durchsetzen kann. Er ist einfach nur ein Blender.
Natürlich: Politik unterscheidet sich von Unternehmensführung. Auch bei Kurz bleiben jedoch ein paar Eingeständnisse: Obwohl er in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder eine gewisse Sorglosigkeit befeuerte, in dem er eine baldige Impfung und einen normalen Sommer 2021 versprach, sagt er heute, dass er eigentlich größere Beschränkungen wollte. Das ist, was es ist: wenig glaubwürdig.
Zweitens: Hier geht es nicht um irgendetwas und auch mehr als um die unbezahlbare Volksgesundheit. Zu zögerliches und zu spätes Handeln führte zum zweiten Lockdown und damit zur Gefährdung unabschätzbar vieler Existenzen. Gegenüber dem Vorjahr ist die Wirtschaftsleistung schon in der ersten Novemberwoche (beim leichten Lockdown) eingebrochen und die Arbeitslosigkeit gestiegen (vgl. diesen Bericht dazu). Solche Schäden waren erwartbar.
Umso weniger hätte der Kanzler in den vergangenen Wochen schweigend hinnehmen dürfen, dass er mit schärferen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nicht durchkommt. Im Gegenteil, es wäre seine Pflicht gewesen, wie etwa Merkel auf widerspenstige Ministerpräsidenten bzw. Landeshauptleute einzuwirken – und diese Konflikte im Notfall auch öffentlich zu machen.
Genau eine solche Politik über die Bande, also die Herbeiführung von Entscheidungen durch gezielte Stimmungsmache, beherrscht Sebastian Kurz ja. Doch ausgerechnet in diesem Fall, in dem es um so viel geht, will er mir nichts, dir nichts darauf verzichtet haben? Es ist kaum zu glauben. Vor allem aber wirft es die Frage auf, was dieser Kanzler dem Land überhaupt bringt außer PR in eigener Sache und Schwierigkeiten für den „Rest“?
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