ANALYSE. Die Regierung steuert Österreich faktenbefreit-fahrlässig durch die Pandemie. Noch Schlimmeres ist damit vorprogrammiert.
These: Das virologische Quartett, also Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) sowie Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), bei denen man gar nicht weiß, warum sie dazu gehören, spricht zwar immer wieder von einem exponentiellen Wachstum bestätigter Infektionen, hat bis heute aber nicht kapiert, was das ist. Zugegeben, es ist schwer und auch dieSubstanz.at ist einem Phänomen zum Opfer gefallen, das es dabei gibt: Lange bewegen sich die Zahlen auf extrem niedrigem Niveau, sodass man sich nichts dabei denkt; plötzlich erreichen sie jedoch schwindelerregende Höhen – doch dann es ist es schon zu spät.
In der Corona-Pandemie hat das bisher letzte exponentielle Wachstum bestätigter Infektionen gleich im Anschluss an die erste Welle im Juni begonnen. Es gibt einen kleinen Trick, um das sichtbar zu machen; man muss nur eine logarithmische Darstellung wählen (siehe Grafik). Wie auch immer: Als diese Entwicklung bereits zwei Monate währte, sprach Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) trotzdem von einem „Licht am Ende des Tunnels“. Bei seiner Rede Ende August setzte er sich nicht mit den riesigen Gefahren der Gegenwart auseinander, sondern skizzierte lieber eine schöne Zeit danach.
Weitere zwei Monate sollten vergehen, bis die Zahlen laut Gesundheitsminister Anschober begannen, zu explodieren. Ab dem 22. Oktober sei das der Fall gewesen, hat er in rückblickenden Interviews gerade erklärt. Wenn man sich die erwähnte Grafik anschaut, kann man über diese Fehleinschätzung eigentlich nur verzweifeln: Am 22. Oktober war fast schon das Ende einer langen Phase mit einem exponentiellen Wachstum erreicht.
Österreich steuerte auf mehr als 500 bestätigte Infektionen pro 100.000 Einwohner und Woche („Inzidenz“) zu, konnte die Kontakte positiv Getesteter nicht mehr nachvollziehen, verzichtete jedoch darauf, diese Leute zumindest zu bitten, Angehörige in Eigenverantwortung zu informieren und so weiter und so fort. Anfang November ging es bekanntlich in einen weichen und Mitte November in den harten Lockdown Nr. 2.
Der zweite Lockdown war mit einem verdächtigen Ziel versehen: boß mit einem Datum (7. Dezember) nämlich. Das ermöglichte es Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) nicht nur, für einen Start in den Wintertourismus zu werben, sondern Kurz, gelöste Weihnachten in Aussicht zu stellen. Das Infektionsgeschehen spielte keine Rolle. Das hätte einen von vornherein stutzig machen müssen. Zumal es dann trotz einer Inzidenz von rund 250 tatsächlich zu den angekündigten Lockerungen kam: Das ist ein Niveau, auf dem andere Länder alles zumachen.
Gerade auch weil die Rückgänge so gering waren, war das sehr riskant, um nicht zu sagen fahrlässig. Doch wie reagierte zum Beispiel der Gesundheitsminister? Am 16. Dezember erklärte er, wie man einen dritten Lockdown verhindern könnte. Zwei Tage später kündigte er einen solchen ab 26. Dezember gemeinsam mit Sebastian Kurz sowie Kogler und Nehammer an. In den beiden Tagen hatte sich – mit Ausnahme von Anschobers „Message“ – nichts Wesentliches geändert.
Um nicht missverstanden zu werden: Vom Infektionsgeschehen her überrascht es nicht, dass schärfere Beschränkungen notwendig sind. Sie stehen jedoch im Widerspruch zur bisherigen Regierungsdarstellung der Entwicklungen; ihnen zufolge hätten fast schon die Wirtshäuser wieder aufmachen können.
Dieser Wahnsinnskurs wird fortgesetzt. Und das verheißt nichts Gutes: Ausgerechnet am Ende des dritten Lockdowns, wenn sehr viele sehr lange kaum Kontakte gehabt haben werden, soll es Massentests geben. Der Anreiz dafür ist zudem vernachlässigbar: Man darf eine Woche früher Restaurants besuchen. Schon nach elf, statt nach zwölf Wochen. Letzteres ist – neben einer FFP2-Maskentragepflicht in der Öffentlichkeit – die „Strafe“ für all jene, die sich nicht testen lassen wollen.
Das ist seltsam: Warum gibt es nicht gerade jetzt schon im Weihnachtsrummel eine allgemeine Pflicht zum Tragen dieser Masken? Warum werden hier nicht an jeder Ecke – im Verhältnis zu einem Lockdown – supergünstige Tests angeboten? Epidemiologisch wäre das logisch. Aber das spielt bekanntlich keine Rolle; das riecht nach Wissenschaft.
Schlimmer noch ist, dass als Ziel dieses Lockdowns zwar nicht nur ein Enddatum, sondern auch eine Inzidenz verkündet worden ist von Kurz und Anschober. Sie aber ist mit „unter 100“ so extrem hoch gegriffen, dass man sich nur noch wundern kann, wie nachfolgende Richtwerte verdeutlichen:
- In Bayern ist eine Region ab einer Inzidenz von 100 nicht nur rot, sondern tiefrot. Dann gelten schärfere Auflagen, als sie ab 50 ohnehin schon gelten.
- Österreich selbst hat zuletzt für die Weihnachtsferien all jene Länder zu Hochrisiko-Herkunftsstaaten erklärt, in denen die Inzidenz über 50 liegt. Rückkehrer von dort müssen in Quarantäne.
- Bei der Corona-Ampel droht ab einer Inzidenz von 20 eine Schaltung von Grün auf Gelb.
- Vor dem Sommer hat Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) Länder wie Italien mit Reisewarnungen versehen, obwohl ihre Inzidenz bereits im einstelligen Bereich gewesen ist.
- Klar, damals wurde weniger getestet, was Vergleiche schwer macht. Jedoch: In der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ haben Wissenschaftler aus ganz Europa (und auch Österreich) soeben den Appell veröffentlicht, eine Inzidenz von maximal sieben anzustreben. Begründung: Dann sei die Geschichte am ehesten kontrollier- und bewältigbar, was im Übrigen auch mit Blick auf wirtschaftliche und gesellschaftliche „Kollateralschäden“ wichtig wäre. Aber das wird nicht einmal ignoriert. Pikantes Detail am Rande: Über mehrere Tag hinweg maximal sieben betrug die Inzidenz in Österreich zum letzten Mal bis zum 16. Juli, also beihnahe vor einem halben Jahr.
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