ANALYSE. Die wirklich „flächendeckenderen“ Grenzkontrollen mit unendlichen Wartezeiten sind bezeichnend für das Krisenmanagement. Es verschärft die Krise.
Tausende Reiserückkehrer hätten in der Nacht auf Samstag nicht zwölf Stunden warten müssen vor dem Karawankentunnel. Bei den Grenzkontrollen hatten die Beamten aufgrund einer neuen Verordnung von sämtlichen Reisenden die Personalien erfasst. Wie das Gesundheitsministerium hinterher mitteilte, wären Stichproben ausreichend gewesen. Andererseits: Hatte nicht der Kanzler erst vor einer Woche „flächendeckendere“ Grenzkontrollen gefordert. Natürlich. Und wenn schon flächendeckend bedeutet, dass jeder überprüft wird, dann muss es die von Sebastian Kurz (ÖVP) kommunizierte Steigerungsform erst recht tun.
Womit wir bei einem klassischen „Fake Law“-Fall angelangt wären: Regierungsvertreter verkünden auf Pressekonferenzen etwas – und Beamte versuchen dann im besten Fall, das in Gesetzes- oder Verordnungstexte zu gießen; oder sie exekutieren im schlimmsten Fall einfach nur Behauptungen. Wie im Frühjahr bei diversen Beschränkungen. Und nun eben bei den flächendeckenderen Grenzkontrollen.
Zunächst hatte man durchaus Verständnis für die eine oder andere Panne aufbringen können: außerordentliche Umstände, keine Zeit nachzudenken etc. Seit April, Mai wäre es jedoch möglich gewesen, sich auf absehbare Herausforderungen vorzubereiten und vor allem auch eine neue Strategie zu entwickeln. „Reißt Euch zusammen“-Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) und Co. haben das jedoch verabsäumt.
Österreich befindet sich nach wie vor in Panik: Jeder Infektionsfall ist eine Katastrophe, Kurz, Anschober und andere äußeren sich ebenfalls alarmiert. Dabei könnte man die Entwicklungen auch so sehen: Jede bestätigte Infektion ist eine, die nicht übersehen worden ist. Gut! Und überhaupt: Ursprünglich lautete das Ziel, Gesundheitssysteme nicht zu überlasten und mit Zuwachsraten in den niedrigen, einstelligen Bereich zu kommen. Motto: „Flat the curve“ bis ein Impfstoff verfügbar ist. Beides ist bisher gelungen. Auch in den vergangenen Tagen hat die Zahl der Spitalspatienten kaum zugenommen. Und die Kurven sind relativ flach geblieben; von einem exponentiellen Wachstum kann keine Rede sein.
Größere Sorgen bereitet dem Public-Health-Experten Martin Spreinger auf Ö1 eine Politik, die mit Angstmache versucht, sich die Bürger gefügig zu machen; und eine Politik, die vor allem auch weiterhin mit viel Aktionismus so tut, als müsse eben jede Neuinfektionen um jeden Preis verhindert werden. Das ist wirklich brandgefährlich:
Erstens, es fördert überschießende Maßnahmen, die wachsende Kollateralschäden hervorrufen. Schon heute zählt Österreich zu den europäischen Ländern mit einem größeren Wirtschaftseinbruch; glimpflicher kommen laut EU-Sommerprognose andere davon.
Zweitens, die Glaubwürdigkeit der Regierung hat gelitten. Kein Mensch würde sich heute noch von der Warnung von Kurz beeindrucken lassen, dass bald jeder jemanden kennen werde, der an COVID-19 verstorben ist. Ja, es ist noch schlimmer: Diese Angstmache hat auch zu Leichtfertigkeit geführt; die geschürten Befürchtungen sind bei weitem nicht eingetreten.
Drittens, in der Pandemie sind europäische Freizügigkeiten so weit zerstört worden, wie es nur geht. Siehe flächendeckende Kontrollen; oder die Beorderung von Soldaten an die Grenze. „Grenzpolitik ist in Pandemie-Zeiten offiziell Schutzpolitik, in Wahrheit aber vor allem eins: eine große, ineffiziente, europafeindliche Show“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am Freitag. Am Wochenende ist vom Karawankentunnel eine beklemmende Bestätigung dafür gekommen.
Und Viertens, wir erleben gerade den größten Systemumbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl wir angeblich gut durch eine Krise gekommen seien, die noch gar nicht zu Ende ist, gibt sich die Regierung bereit, unendlich viel Geld aufzustellen. Das wird hinterher fehlen. Wo? Bei den Pensionen offenbar nicht; hier soll es zum Teil weitere Anpassungen über der Inflationsrate geben. Unter anderem werden Junge draufzahlen; und Langzeitarbeitslose und viele andere mehr. Gesetze und Verordnungen sind wiederum von zweifelhafter Qualität. So lange kein Höchstgericht einschreitet, tut das aber nichts zur Sache, weil im Zweifelsfall gilt, was die Regierung verkündet. Ganz einfach.
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