ANALYSE. Österreichs Umgang mit der Pandemie kippt von einem Extrem ins andere. Sofern man einen weiteren Lockdown verhindern möchte, ist das fatal.
Wenn man in den vergangenen Wochen nicht erkrankt ist und seinen Job behalten hat, dann herrscht fast schon wieder eine gute, alte Normalität: Auf der Straße geht man einander nicht mehr aus dem Weg, alle Geschäfte sind geöffnet, die Gastgärten sind gut gefüllt und die Maske hängt irgendwo, sodass man sie gleich weglassen könnte. Ganz und gar keine Thema mehr ist die bzw. eine Stopp-Corona-App und so weiter und so fort.
War da was? Natürlich: Die österreichische Regierung ist Mitte März entschlossen zur Bekämpfung der Pandemie eingeschritten. Das „Wie“ muss jetzt nicht näher erörtert werden. Die Warnung vor 100.000 Toten bzw. – noch wirkungsvoller – der Hinweis, dass bald jeder ein Opfer kennen werde, hat genügt. Schockstarre hat fast 8,9 Millionen Menschen in Österreich zu Hause bleiben lassen. Die erste Welle konnte so mehr oder weniger besiegt werden.
Und jetzt? Wie #Ischgl für den Ausbruch der Pandemie steht, steht #Kleinwalsertal für die nunmehrige Phase: Nach all den Entbehrungen der vergangenen Wochen will man jetzt einfach wieder leben. Gut, man sollte ein bisschen aufpassen. Weil das gefühlt aber niemand tut, vergisst man irgendwann auch selbst darauf.
Was bemerkenswerterweise plötzlich ganz fehlt, ist ein öffentlich wahrnehmbarer, politischer Prozess zum Umgang mit der Pandemie: In der Schweiz etwa ist klargestellt, dass mit den Lockerungen zusätzliche Kontrollmaßnahmen einhergehen müssen. Ein Element dabei ist eine nationale App, die das Gesundheitsministerium gerade testen lässt und die im Juni auf freiwilliger Basis eingeführt werden soll. Wobei natürlich die Hoffnung besteht, dass ein Großteil mitmacht; sonst würde das Ganze ja keinen Sinn machen.
In Österreich ist eine solche App seit Anfang Mai gar kein Thema mehr. Nicht, weil man zur Erkenntnis gelangt wäre, dass das nicht’s ist, sondern eher, weil man sich eine Debatte ersparen möchte. Kanzler-Beraterin Antonella Mei-Pochtler sprach in einem Interview von einer verpflichtenden App („Jeder wird eine App haben“), es kam zu einem Aufschrei – und das war’s dann: Man forciert seither nicht einmal mehr eine freiwillige App, sondern gar nichts (für Herr und Frau Österreicher ist jedenfalls nichts dergleichen mitzubekommen).
Das ist unheimlich, zumal zwei Dinge mittlerweile unbestritten sind: Es muss mit einer zweiten Infektionswelle gerechnet werden. Und es muss alles getan werden, damit nicht noch einmal ein Lockdown bzw. ein K.o.-Schlag gegen das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsleben nötig wird. Also wäre es umso wichtiger, dass die Politik zumindest die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass die Menschen eigenverantwortlich und (z.B. eben mit einer freiwilligen App) abgesichert zu größtmöglicher Normalität zurückkehren können. Andererseits: Vielleicht kann oder will sie das gar nicht.
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