ANALYSE. Österreichische Politik maßt sich nicht mehr an, die Pandemie zu meistern. In einer Phase, in der es um Stunden geht und die allgemeine Verunsicherung wächst, ist sie jedoch tagelang abmeldet.
Über Teile der Schweiz ist die Omikron-Welle bereits voll hereingebrochen. Im Kanton Tessin beispielsweise wurden in den vergangenen sieben Tagen 9720 Infektionen bestätigt. Das entspricht einer Inzidenz von rund 2750 pro 100.000 Einwohner. Zweitausendsiebenhundertfünfzig: In Österreich war sie auf Bundesländerebene im bisherigen Verlauf der Pandemie in Salzburg am höchsten; und zwar mit 1805 vor bald zwei Monaten.
Dass Erkrankungsverläufe milder werden dürften, ist keine Beruhigung: In einem „Policy Brief“ warnen Peter Klimek und Stefan Thurner vom Complexity Science Hub Vienna (CSH), dass sich zehn bis 20 Prozent der Menschen infizieren könnten, bevor sich die mittlerweile fünfte Welle beruhigen dürfte. Damit wird nicht nur mit extrem vielen Spitalspatienten in absoluten Zahlen zu rechnen sein, sondern auch mit Personalausfällen im Gesundheitssystem und anderen kritischen Infrastrukturen, die nur schwer zu heben sein werden. Also fordern die beiden Forscher die Politik auf, baldmöglichst Klarheit über eine beabsichtigte Strategie zu schaffen. Wobei die Zeit dränge. Für ein Verhindern der Welle sei es ohnehin zu spät.
Das leitet über zu einem größeren Problem: Die Bundesregierung kippt von einem Extrem ins andere. Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bemühte sich, den Eindruck zu vermitteln, alles unter Kontrolle zu haben. Nachfolger Karl Nehammer (ÖVP) vermittelt den Eindruck, sich um gar nichts zu bemühen. Es gibt eh „Gecko“, diesen geheimnisvollen Expertenstab, der irgendwann sagt, was zu tun ist. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) ist Mitläufer, der sich allenfalls mit nichtssagenden Tweets an die Öffentlichkeit wendet: „Neue wissenschaftliche Daten werden uns zeigen, wie es in Österreich weitergehen muss.“
#Update: Heute tagt #GECKO zur aktuellen epidemiologischen Lage. Neue wissenschaftliche Daten werden uns zeigen, wie es in Österreich weitergehen muss.
Am Donnerstag treffe ich mich zudem mit den Landeshauptleuten. (1/3)— Wolfgang Mueckstein (@WolfgangMueckst) January 4, 2022
Zu sagen, eine solche Politik mache sich selbst überflüssig, greift nicht weit genug. Sie richtet eher Schaden in Form wachsender Verunsicherung an: Sie scheint auch grundlegende Fragen an „Gecko“ ausgelagert zu haben. Genaueres weiß man jedoch nicht. Man kann annehmen, dass in zwei, drei Tagen der nächste harte Lockdown angekündigt wird oder auch, dass nun eine – koste es, was es wolle – Durchseuchung beabsichtigt ist. Politik vergisst bei alledem auf etwas ganz Entscheidendes: So gut es ist, dass sie mehr und mehr Fachexpertise wirken lässt, so sehr bleibt sie gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in der Pflicht, ständig eine Richtung sichtbar zu machen.
Die Leute müssen sich auf irgendetwas einstellen können: Ist die Pandemie jetzt wirklich ein individuelles Risiko, das man zum Teil (zum Beispiel durch eine Auffrischungsimpfung und Kontaktbeschränkungen) für sich selbst begrenzen kann? Soll man sich Vorräte für ein paar Wochen einlagern? Oder wie?
Es gibt keinen akzeptablen Grund dafür, dass Nehammer und Mückstein das so lange ganz in Schwebe lassen. Sie mögen es unheimlich schwer haben. Neue Ansätze im Umgang mit Corona scheinen notwendig zu sein. Ebensolche Transformations- und letztlich auch Entscheidungsprozesse müssen jedoch transparent gehalten und immer wieder erläutert werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf. Jedenfalls in einer Demokratie.
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