Rot-weiß-rote Planlosigkeit

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ANALYSE. Österreich antwortet auf die zweite Welle zögerlicher als Deutschland und konsequenter als die Schweiz. Strategie ist keine zu erkennen.

In den vergangenen Tagen ist die Bundesregierung von sehr ungewöhnlichen Seiten ermahnt oder kritisiert worden. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in seiner Ansprache zum Beginn des zweiten Lockdowns gefordert, erstens eine Perspektive für die Zeit danach zu erstellen und zweitens endlich ein „wirklich funktionierendes Test- und Tracingsystem“ aufzubauen (wozu natürlich auch die Länder nötig sind). Im Klartext heißt das: Dass das Infektionsgeschehen außer Kontrolle geraten ist, ist nicht nur verantwortungslosen Bürgerinnen und Bürgern anzulasten, sondern auch dem staatlichen Krisenmanagement. Es ist laut Van der Bellen nicht gut genug.

Und dann war da noch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in der ARD-Sendung „Anne Will“: Zu Beginn der Pandemie habe man von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz noch lernen können, ließ er wissen. Zuletzt jedoch nicht mehr: Kurz habe zu lange gewartet. Und „immer dann, wenn jemand zu lange gewartet hat, muss er sehr scharf nachziehen“. Mit anderen Worten: Wir hätten uns einiges ersparen können. Behauptet zumindest Söder.

Ein Ländervergleich bestätigter Infektionen pro 100.000 Einwohner und Woche zeigt, dass der Bayer gut reden hat: Deutschland hat mit seinem Zutun ziemlich genau zwei Wochen vor Österreich die Reißleine gezogen und einen Lockdown ausgerufen. Heute hält es bei einer Inzidenz von 124. Auf diesem Niveau befand sich Österreich Mitte Oktober und wartete zu. Schlimmer noch: Seither ist die Kurve steiler geworden und auf 356 gestiegen (Stand: 3. November). Das gegenwärtige Niveau ist damit dreimal höher als in Deutschland, wo die Kurve noch dazu weiterhin recht flach verläuft (siehe Grafik).

Das ist hochriskant aus rot-weiß-roter Sicht. Zum Beispiel auch in dieser Hinsicht: Man kann sich darüber ärgern, muss aber zur Kenntnis nehmen, dass für die Deutschen eine Inzidenz von 50 eine entscheidende Richtgröße für Reisewarnungen ist. Es ist (leider) so. Das Problem ist: Auf 50 runterzukommen kann lange in den Winter hinein dauern. Katastrophale Folgen für den Tourismus inklusive.

Hätte Sebastian Kurz einen Plan, könnte er Söder antworten, dass man wisse, worauf man sich einlasse. Er tut es nicht. Im besten Fall ist die Planlosigkeit dem Umstand geschuldet, dass er sich nicht einig ist mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne); dafür spricht, dass er selbst ja immer wieder behauptet, dass er schon früher härter durchgegriffen hätte. Im schlimmsten Fall lässt er die Entwicklungen einfach nur laufen und handelt erst dann, wenn es nicht mehr anders geht.

Wie auch immer. Österreich orientiert sich weder an deutscher Entschlossenheit noch am eidgenössischen Weg, mit der Pandemie umzugehen. In der Schweiz ist die Inzidenz – mit zuletzt 641 – noch viel höher als hierzulande. Dort will die Regierung unter Verweis auf Kollateralschäden aber noch immer nichts von einem flächendeckenden Lockdown wissen. Das ist umso bemerkenswerter, als die Intensivkapazitäten knapp davor stehen, ausgelastet zu sein. Zum einen verweist man darauf, dass die Kurven etwas flacher werden und zum anderen, dass man für den Fall der Fälle genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung habe. Nicht zu sagen, ob das klug oder verrückt ist; das wird sich weisen. Der Punkt ist: Man hat sich zumindest einen Plan zurechtgelegt.

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