ANALYSE. Der Rückgang des Infektionsgeschehens sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr der Ausnahme- zu einem Dauerzustand geworden ist – und vor allem auch bleiben könnte.
Die gesundheitlichen Folgen der Krise seien „überstanden“, hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am 13. Juni auf Facebook geschrieben. Am 13. Juni 2020, wohlgemerkt, vor ziemlich genau einem Jahr also. Sagen wir so: Es entsprach allgemeiner Hoffnung und durchaus auch verbreitete Meinung. Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) ist bis in den Herbst hinein davon ausgegangen, dass kein Lockdown mehr notwendig werde.
Was das Infektionsgeschehen zuletzt befeuerte, waren sogenannte Varianten, allen voran Alpha (B.1.1.7). Jetzt ist Delta an der Reihe, erstmals nachgewiesen in Indien. Das Problem: Impfen hilft sehr, aber noch lange nicht ausreichend. Großbritannien hat weitere Lockerungen gerade verschieben müssen. Ausgerechnet Großbritannien, wo schon zwei Drittel der Bevölkerung zumindest eine erste Dosis erhalten hat.
Vor diesem Hintergrund, sollte man nicht panisch, aber auch nicht blauäugig werden: Der Sommer wird nur für Sorglose „cool“ und für niemanden „normal“. Vom Herbst und dem darauf folgenden Winter gar nicht zu reden.
Damit geht auch eine hochpolitische Dimension einher: Mehr noch als bisher müssen sich Verantwortungsträger wie Sebastian Kurz vom Gedanken verabschieden, die herausfordernden Zeiten hinter sich lassen zu können. Zumal es auch von diversen Unzulänglichkeiten ablenkt, die es noch immer gibt: PCR-Tests sind nach wie vor die Ausnahme und allenfalls nur in Wien die Regel. Sie aber sind eine Voraussetzung dafür, dass Varianten erkannt werden können.
Die staatliche Datenlage ist auch eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie zum Schreien, wie ORF.AT hier gerade dokumentiert hat: Das Gesundheitsministerium könne nicht beziffern, welcher Anteil der Risikopatienten bereits geimpft sei. Zu den Hospitalisierungen würden „noch keine „Echtdaten“ aus den Krankenhäuseren“ vorliegen.
Zu einem harten Lockdown sollte es wirklich nicht mehr kommen müssen. Das aber ist relativ. Wie sehr man sich an Beschränkungen, die notwendig sein können, gewöhnt, erkennt man daran, dass sie bei geöffneten Schwimmbädern und Gasthäusern kaum noch wahrgenommen werden, obwohl sie noch immer weitreichend sind. Die Uni Oxford weist im „Stringency Index“ gerade einen Wert von 60,2 aus für Österreich: 100 steht für de facto keine Freiheiten mehr, null für Verhältnisse, wie sie vor der Pandemie bestanden. Sprich: Der Ausnahmezustand ist zu einem Dauerzustand geworden.
Trotz steigender Impfrate muss davon ausgegangen werden, dass gewisse Beschränkungen gerade in kommenden, kälteren Jahreszeiten wieder ausgeweitet werden. Im besten Fall werden sie einer Masse harmlos erscheinen. Das aber ist nicht der Punkt, um den es hier geht: Politisch überfällig sind Entscheidungsprozesse in diesem Zusammenhang, die demokratisch einigermaßen erträglich sind. Dazu gehört eine grundsätzliche Orientierung, die Auskunft darüber gibt, was unter welchen Umständen notwendig werden könnte. Das würde z.B. für Unternehmen mehr Planbarkeit bringen. Im Übrigen wäre es an der Zeit, im Parlament einen ständigen CoV-Ausschuss einzurichten, der regelmäßig öffentlich tagt. Das würde einen Teil der Macht stärker dorthin verlagern, wo sie gerade bei schwerwiegenden Entscheidungen hingehört; ins Hohe Haus nämlich.
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