ANALYSE. COVID-19: Unter Federführung von Sebastian Kurz passiert zu viel, damit der Winter hart und die Ernüchterung im kommenden Sommer groß sein wird.
Der Lockdown im Frühjahr habe zu einem Rückgang der Infektionszahlen geführt. Die damit erkaufte Zeit sei jedoch nicht genützt worden, um wirkungsvolle Strategien zum Testen und Nachverfolgen von Kontakten zu entwickeln. Das sei zum Teil auch daran gelegen, dass der kleine Kreis um den Regierungschef, auf den sich die Macht konzentriert, niemanden mit einschlägigem Fachwissen enthalte. Das Nachrichtenmagazin „Economist“ schreibt hier über Israel und Premierminister Benjamin Netanjahu. Parallelen zu Österreich und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sind nicht zufällig. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass sich dieser zu Beginn der Pandemie gerne dabei fotografieren ließ, wie er sich mit Netanjahu abstimmt; als Chefs vermeintlich „smarter“ Staaten, die meinen, gut durch die Krise gekommen zu sein. Das Ergebnis ist bekannt: In Israel gibt’s einen zweiten Lockdown.
Österreich verzeichnet Anfang Oktober 2020 Infektionszahlen wie im März. Wobei natürlich sehr vieles zu berücksichtigen ist: Es wird mehr getestet, die Medizin ist besser geworden etc. Derartige Relativierungen bringen jedoch gar nichts, wenn zum Beispiel Deutschland bei seinen Reisewarnungen weiterhin vor allem den Zuwachs bestätigter Fälle pro 100.000 Einwohner und Woche beachtet. Dann hat man den Schaden. Und Punkt.
Kurz hat die Zeit im Sommer zumindest nach außen hin nicht nur nicht genützt, um das Land federführend gegen steigende Infektionszahlen zu stärken; er hat vielmehr Ende August schon von einem normalen Sommer im kommenden Jahr gesprochen. Ersteres war sträflich, letzteres unsinnig.
Das Kanzler ist natürlich nicht für alles allein verantwortlich. Sein Job wäre es jedoch, Verantwortung zu übernehmen und Missstände parteipolitisch „un“-motiviert anzusprechen. Indem er das in den vergangenen Wochen und Monaten unterlassen hat, ist ein gewisser Schlendrian eingezogen. Als nach dem Sommer die Zahlen erstmals kräftig stiegen, hieß es zunächst, das sei nur auf Nachmeldungen aus Wien zurückzuführen. Jetzt soll ein weiterer Anstieg laut Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) zum Teil mit einem Cluster-Wachstum zu tun haben. Klingt nach Glück im Unglück. Allein: Ein Rückgang ist nicht in Sicht. Es ist offenbar schwer bis unmöglich, ohne größere Einschnitte runterzukommen mit den Zahlen.
Zumal da eben das Krisenmanagement überfordert ist. Vor allem in Wien: Die Ankündigung von Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), schnell 1000 zusätzliche Leute einzustellen, ist diesbezüglich ein Eingeständnis: Man hat darauf vergessen, sich rechtzeitig darum zu kümmern.
Zu allem Überdruss liefern die „New York Times“ gerade jetzt, wo es ohnehin schon Reisewarnungen hagelt, einen Zeitungsaufmacher, der vermittelt, wie sich das Virus über Ischgl in der Welt weiterverbreitet hat. Allein: Auch das ist eine Rechnung. Österreichische Politiker, von Tirols LH Günter Platter bis Sebastian Kurz, haben „Ischgl“ immer verdrängt. Kurz ortete ein bösartiges „Blame Game“, Platter tat so, als würde man unterstellen, COVID-19 sei überhaupt erst in diesem Ort entstanden. Beides ist absurd. „Ischgl“ steht vielmehr für internationalen Massentourismus und zu langes Wegschauen in Bezug auf das Virus. Fortgesetztes Leugnen provoziert folglich nur noch größere Medienberichte und ist somit geschäftsschädigend im Hinblick auf die Wintersaison 2020/21.
Sehr vieles hängt hier mit dem Zugang von Sebastian Kurz zu Politik zusammen: Er muss so tun, als wäre er hochkompetent und hätte alles unter Kontrolle. Fehler kann es in diesem Zusammenhang nicht geben. Entscheidend für die Inhalte ist wiederum die öffentliche Meinung, wobei es sich um ein Wechselspiel aus Stimmung befriedigen und Stimmung machen handelt.
Letzteres hat Kurz wohl auch dazu motiviert, falsche Hoffnung zu machen und einen normalen Sommer 2021 in Aussicht zu stellen. Wobei er – wie Gesundheitsminister Anschober – davon ausgeht, dass bis dahin eine Impfung entdeckt ist. Was durchaus möglich ist. Nur: Zum einen erwarte niemand, dass sie zu 100 Prozent schützen wird. Gerade bei Älteren werde der Wirkung eher gering oder überhaupt nur vorübergehend sein, analysiert der „Economist“. Zum anderen wird es lange dauern, bis genügend Leute geimpft sind. Was wiederum den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CDU) dazu veranlasst, zu warnen, dass „uns“ Abstandsregeln und Maske länger erhalten bleiben werden, „als wir denken“.
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