ANALYSE. Für Integrationsministerin Raab bleiben fremde Umgangssprache und nicht-österreichische Staatsbürgerschaft ein grundsätzliches Problem. Damit stellt sie sich gegen eine Lösung.
Sie haben Migrationshintergrund und leben in Wien? Sie sind verdächtig: Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) wird Sie künftig für ein sogenanntes „Frühwarnsystem“ erfassen. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in einem Stadtteil ist der Faktor, auf dem es aufbauen wird. Zusätzlich berücksichtigt werden sollen auch sozioökonomische Faktoren wie Arbeitsmarktbeteiligung und das Bildungsniveau. Aber wie gesagt: Wenn es in Ihrer Gegend viele Menschen Ihresgleichen gibt, könnte da schon einmal ganz grundsätzlich irgendetwas ausschlagen und passieren.
Willkommen in der österreichischen Integrationspolitik im Jahr 2020: Sie steht zunächst einmal im Zeichen der Wiener Gemeinderatswahl im Oktober. Und passt insofern hervorragend dazu, als die ÖVP von Susanne Raab einen Gutteil der Viertelmillion FPÖ-Wähler des Jahres 2015 überzeugen muss, um den erwarteten Erfolg auch wirklich einfahren zu können. Einer Umfrage zufolge, die Raab präsentiert hat, orten kurz nach den Ausschreitungen von Favoriten wenig überraschend 70 Prozent der Österreicher Parallelgesellschaften im Land. Also kündigt Raab dieses Frühwarnsystem an.
Es ist politisch durchschaubar, daneben und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eher brandgefährlich. Warum? Weil es zunächst einmal eben so pauschal von Migranten ausgeht. Das entspricht vielleicht dem Stand der frühen 1970er Jahre als sehr viele schlecht qualifizierte Fremde gezielt nur als sogenannte Gastarbeiter ins Land geholt wurden. Aber heute?
Weil es hier um den Wien-Wahlkampf geht, lohnt es sich, die Zusammensetzung der Bevölkerung in zwei „Extrembezirken“ zu studieren: Innere Stadt und Favoriten. Schon die Herkunft ist ein Indiz dafür, dass hier sehr unterschiedliche Ausländer leben: In der City sind es mit einem Bevölkerungsanteil von 13,9 Prozent eher nicht-österreichische Angehörige von EU- und EFTA-Staaten als Menschen aus einem Drittland (13,5 Prozent). In Favoriten ist der Anteil letzterer mit 24,3 Prozent dagegen zwei Mal höher als der Anteil ersterer. Der Anteil Deutscher beträgt in der City wiederum 4,2 Prozent und in Favoriten gerade einmal 1,2 Prozent. Bei Türken ist es mit 0,4 bzw. 4,7 Prozent umgekehrt.
Extreme Unterschiede gibt es im Übrigen nicht nur nach Bezirken, sondern auch nach Bildungsstand: Nicht-Österreichische EU- und EFTA-Bürger vom Boden- bis zum Neusiedlersee haben nicht nur eher bloß einen Pflichtschul-, sondern eher auch einen Uni-Abschluss. Sprich: Sie haben einen höheren Akademikeranteil. Türkische Staatsbürger weisen dagegen einen extrem niedrigen Bildungsstand nach formalen Kriterien auf: Fast zwei Drittel sind nicht über die Pflichtschule hinausgekommen, nur 2,3 Prozent haben eine Uni absolviert (siehe Grafik).
Was heißt das? Dass man hier endlos weiter differenzieren könnte und müsste. Aber was erwartet man sich von einer Integrationsministerin, die parteipolitisch-wahltaktisch agiert und dabei auch schon den bloßen Anteil von Schülern mit nicht-deutscher Umgangssprache problematisiert? Was bemerkenswerterweise sogar der „Kronen Zeitung“ zu dünn war, wie dieses Interview dokumentiert.
Freilich: Die Bildung gewisser Parallelgesellschaften ist über viele Jahre provoziert worden: Die SPÖ-geführte Stadt Wien hat bis in die 2000er Jahre hinein die vielen Ausländer vom riesigen Gemeindebausektor ferngehalten. Dadurch ist gefördert worden, dass sie sich konzentrierter in „billigen“ Vierteln niedergelassen haben. Bildung im schulischen Sinne wiederum ist bis heute nicht auf Integration, sondern auf Trennung ausgelegt. Die einen in die Mittelschule, die anderen ins Gymnasium.
Dabei wäre genau dieses Bildungssystem ein Hebel, bei dem angesetzt werden könnte, um zu mehr Integration zu kommen. Aber dazu müsste es erstens um die Sache gehen und zweitens der Ansatz aufgegeben werden, dass der Handlungsbedarf abhängig ist von der (geographischen) Herkunft; was schlicht eine Lüge ist, wenn man sich ein ausländisches Diplomaten- oder Managerkind vorstellt, von denen es in Wien ja auch nicht gerade wenige gibt.
In Wirklichkeit würde es nicht um den Migrations-, sondern allein um den sozioökonomischen Hintergrund gehen. Zumal auch österreichische Kinder existieren sollen, die weder schreiben noch sinnerfassend lesen können und die auf die falsche Bahn geraten – ohne für ein Frühwarnsystem erfasst zu werden.
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