Führungsloses Österreich

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ANALYSE. Kanzler und Gesundheitsminister pfeifen auf Verantwortung, Länder übernehmen keine: Die (hoffentlich) letzten Meter der Pandemie werden die heftigsten.

Die Pandemie wird immer wieder mit einem Marathon verglichen, bei dem das Ziel nahe sei. Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) hat gar schon auf einen „Ironman“ verwiesen. 1997 gab es bei den Weltmeisterschaften über diese Triathlon-Distanz ein Finale, das verdeutlicht, was die letzten Meter bedeuten können: Die Amerikanerinnen Sian Welch und Wendy Ingraham liefen nicht um den vierten Platz; entkräftet krochen sie auf allen Vieren darum (ein Youtube-Video, auf dem das zu sehen ist, ist millionenfach aufgerufen worden).

Die dritte Welle, in der sich Teile des Landes befinden, wird mit zunehmender Wahrscheinlichkeit die schlimmste. In Wien liegen bereits so viele Corona-Patienten auf der Intensivstation wie noch nie. Das Virus ist ansteckender und gefährlicher insofern geworden, als es zu schweren Krankheitsverläufen führen kann. Die Politik hat sich jedoch entschlossen, (fast) nichts mehr zu tun.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kann man unterstellen, er sorge sich eher um seine Popularitätswerte als um den Verlauf der Pandemie. Das ist böse, jedoch schwer zu beweisen. Wichtiger ist, dass er auf seine Verantwortung pfeift: Als Chef der Regierung wäre es sein Job, sich federführend darum zu kümmern, dass sich ganz Österreich in eine bessere Richtung bewegt.

Maßgebliche Teile – auch seiner Partei – halten jedoch dagegen: Wirtschaftskämmerer unter Führung von Harald Mahrer und Landeshauptleute vom Boden- bis zum Neusiedlersee beispielsweise. Markus Wallner im Westen will seine Bürgerinnen und Bürger für im Moment niedrige Inzidenzwerte belohnen; nach einer Zeit langer Entbehrungen nehmen sie gerne an (auch wenn schwer zu sagen ist, woher das alles kommt, geschweige denn, wie es weitergehen wird). Günther Platter in Tirol ist längst in der Praxis geübt, gefährliche Entwicklungen kleinzureden. Von Wilfried Haslauer ist außerhalb Salzburgs nichts zu hören und so weiter und so fort. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) schmiedete bis zuletzt eher nur Pläne für offene Schanigärten; die kann er vergessen. Stellvertretend für die Ländervertreter hat die nö. Gesundheitslandesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) im Ö1-Morgenjournnal vom Dienstag erklärt, was auf dieser Ebene des Staates angesagt ist, wenn es ernst wird: Abwarten und schauen, was kommt.

Obwohl es eindeutig in die Zuständigkeit des Bundes fällt, will Kurz, dass sich Länder – wie zunächst Wien, NÖ und das Burgenland – ab sofort um die Pandemie-Bekämpfung kümmern. Das ist typisch österreichisch: Es wird einfach eine Art Realverfassung gemacht. In Wahrheit handelt es sich um eine Pflichtverletzung des Bundes. Im Wissen, worauf das hinausläuft: Bei der nö. Stadt Wiener Neustadt hat es trotz einer Inzidenz von über 400 tagelang gedauert, bis sich Bürgermeister Klaus Schneeberger (ÖVP) bereiterklärt hat, einzuschreiten. Ergebnis: Die Inzidenz beträgt noch immer 460.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) trifft all das sichtlich. Er schiebt Aufgaben, die er zu erfüllen hat, nicht so einfach weg, bringt viel eher seine Ohnmacht zum Ausdruck: Beim Bund-Länder-Gipfel habe er auf härtere Maßnahmen gedrängt, sei aber nicht durchgekommen, beklagte er in der ZIB 2. Allein: Was tut das zur Sache?

In Wirklichkeit wäre es ein Grund für Anschober, zurückzutreten: Wenn er der Überzeugung ist, dass eine bestimmte Maßnahme zur Vermeidung größerer Schäden notwendig ist, dann hat er sie Kraft seiner Möglichkeiten bzw. mittels Verordnung oder was auch immer durchzusetzen. Landeshauptleute sind hier nur Organe einer mittelbaren Bundesverwaltung, die zu tun haben, was er befiehlt.

Die Diskussion darüber hatten wir im Februar schon einmal, als es in Tirol um die „südafrikanische“ Mutationsfälle ging. Damals wie heute überwiegt das Politische: Anschober bräuchte die Rückendeckung von Kurz. Dieser müsste zudem auf seine Parteifreunde in den Ländern und in der Wirtschaftskammer einwirken. Offenbar kann oder will Kurz jedoch nicht, also ist auch Anschober hilflos: Allein zwingt er ein Land gegen dessen Willen nur einmal zu etwas; sehr wahrscheinlich hat er dann umgehend eine parlamentarische Mehrheit gegen sich, die ihn stürzt.

Das ist ein Dilemma, das von den Persönlichkeiten her wohl eher beim Gesundheitsminister als beim Bundeskanzler zu Gewissenkonflikten führt: Tun, was A) notwendig ist oder was B) dem längerfristigen Machterhalt dient? Die Antwort lautet für beide B) – auf Kosten gesundheitlicher und letztlich auch wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen.

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