Bedrohte Mittelschicht

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ANALYSE. Je länger die Inflation andauert, desto mehr Menschen bringt sie in Bedrängnis. Problem: Bevorstehende Wahlen und fehlende Instrumentarien erschweren Notwendiges.

Wirtschaftsforscher sind sich einig: Um Folgen der starken Teuerung abzufedern, muss erstens schnell und zweitens treffsicher gehandelt werden. Letzteres vor allem auch, weil noch sehr viel Geld nötig werden könnte. Doch was tut die Regierung: Laut Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) wird ein Paket erst im Herbst kommen. Im ZIB2-Interview begründet er dies mit parlamentarischen Vorlaufzeiten, die nötig seien.

Entscheidend ist wohl eher dies: Zwischen den Koalitionsparteien herrscht Dissens. Rauch drängt zum Beispiel auf eine automatische Wertsicherung von Sozialleistungen. Sein erster Vorstoß dazu wurde von ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner umgehend abgelehnt. Zweitens: Einzelne Maßnahmen, die heute gesetzt werden, wirken morgen, sind übermorgen jedoch verpufft. Sprich: Parteipolitisch bringen sie dann nichts mehr. Besonders für die ÖVP, die sich in einer Krise befindet, ist das ein Problem. Aus ihrer Sicht sollten Maßnahmen möglichst zeitnah zu bevorstehenden Landtagswahlen in Niederösterreich, Salzburg, Tirol und Kärnten gesetzt werden. Summa summarum ist das ein Werben um vier von zehn österreichweit Wahlberechtigten; das ist gewissermaßen eine kleine Nationalratswahl, die 2022/23 stattfindet.

Und das steht letzten Endes auch der Expertenempfehlung im Weg, sich nicht nur auf schnelle, sondern auch treffsichere Entlastungen zu konzentrieren: Eine Masse der Wählerinnen und Wähler würde dann leer ausgehen, könnte nicht beglückt werden.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und das Institut für Höhere Studien (IHS) haben gemeinsam einen Vorschlag erarbeitet. Sie empfehlen eine „Erhöhung der Absetzbeträge für Bezieherinnen und Bezieher niedriger Einkommen (Pensionisten-Absetzbetrag, Zuschlag zum Verkehrsabsetzbetrag) sowie der Negativsteuer, eine Anhebung existenzsichernder Sozialleistungen (Ausgleichszulage, Mindestsicherung, Sozialhilfe, Leistungen für geflüchtete Menschen) und der Familienleistungen insbesondere für niedrige Einkommen (Mehrkindzuschlag bei der Familienbeihilfe und Kindermehrbetrag beim Familienbonus).“

Das wäre nur ein Paket für eine erste Etappe zur Bewältigung kommender Herausforderungen. „Je höher die Teuerung jedoch ausfällt und je länger sie anhält, desto mehr erweitert sich der Kreis der Haushalte, die durch die Teuerung in finanzielle Bedrängnis geraten, hin zur Einkommensmitte“, warnen die Institute.

Eine Ahnung dazu liefert „Statistik Austria“ im Rahmen einer Auswertung des Konsumverhaltens österreichischer Haushalte 2019/20. Siehe Grafik: Beim unteren Drittel der Haushalte sind die nach Mitgliedern gewichteten Ausgaben („Äquivalenzausgaben“) niedriger als das verfügbare Einkommen. Bis in die Mitte der Haushalte hinein ist das verfügbare Einkommen nur unwesentlich größer. Da gibt es kaum Luft, sind Engpässe bei entsprechender Teuerung schnell erreicht. Ein ordentliches Polster haben ausschließlich die obersten Haushalte.

Bei dieser Auswertung mag man das eine oder andere berücksichtigen müssen. Größere Anschaffungen, wie ein Auto oder eine Schlafzimmereinrichtung, sind in den Ausgaben enthalten, werden unter Umständen aber nicht übers Einkommen, sondern mit Erspartem finanziert. Auf Dauer ändert das jedoch nichts an der Misere: Weiten Teilen der Gesellschaft drohen Einschränkungen.

Umso verhängnisvoller ist, was die Wirtschaftsforschungsinstitute im Übrigen feststellen: Um Menschen über den heutigen Kreis an Sozialleistungsbeziehern – ebenfalls treffsicher (!) – helfen zu können, fehle „ein geeignetes Instrument zur gezielten Unterstützung“. Nötige Informationen würden bisher nicht vorliegen, zum Teil auch, weil Daten von Gebietskörperschaften, Sozialversicherungen und anderen nicht zusammengeführt sind. Bei der Umsetzung des Energieschecks hat man das gesehen.

Vorschlag von WIFO und IHS: „Auf Basis der individuellen Daten zu den Einkommen der Finanzämter, zum Bezug von Familienbeihilfe und Pflegegeld sowie zum Hauptwohnsitz laut Melderegister sollte analog zur automatischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerveranlagung für die meisten Haushalte eine zielgerichtete Unterstützung ohne eigene Antragstellung ermöglicht werden. Die Politik kann dann unter Festlegung der Bezugsbedingungen (Einkommensgrenzen) die Haushalte einmalig und zielgerichtet unterstützen.“

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