ANALYSE. Die ÖVP unterstellt, dass Arbeitslose faul sind. Es gibt jedoch ein größeres Problem: Gerade auch türkise Steuerpolitik ist gegen Arbeit und höhere Einkommen.
Jeder, der gesund ist und arbeiten kann, soll auch arbeiten, findet Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Wie so viele seiner Aussagen ist diese nicht falsch, habt aber einen Beigeschmack: Sie unterstellt, dass es ziemlich viele Menschen gibt, die etwas leisten könnten, aber nicht wollen; die es vorziehen, auf Kosten der Allgemeinheit zu leben. Nicht, dass es sie nicht geben würde, doch handelt es sich um eine Masse? Man sollte es – am besten wissenschaftlich – untersuchen; und dabei gleich auch der Frage nachgehen, welche Effekte mit einem degressiven, zunächst also höheren und dann immer kleiner werdenden Arbeitslosengeld ebenso einhergehen wie mit einer niedrigeren Zuverdienstgrenze als derzeit 475,86 Euro.
All das politischen Gefühlslagen zu überlassen, ist fahrlässig. Zumal man skeptisch sein muss: Derselbe Sebastian Kurz führt eine Partei, die extrem leistungsfeindliche Elemente in diesem Staat mitzuverantworten hat, die sie erstens nicht ändern möchte und die zweitens in Summe wohl ein viel größeres Problem darstellen.
Das Steuersystem ist leistungsfeindlich: Am stärksten belastet ist der Faktor Arbeit, also echte Leistung. Erben, also gar keine Leistung (sondern pures Glück), wird im Unterschied dazu gar nicht besteuert. Laut ÖVP soll es so bleiben. Vielen ist Erben daher weiterhin die einzige Möglichkeit, zu einem Vermögen zu kommen. In all jenen Teilen Österreichs, in den die Bodenpreise in den vergangenen Jahren explodiert sind, kann man nur noch dann zu einem eigenen Haus kommen, wenn man ein Grundstück geerbt hat. Mit Fleiß allein würde sich das nie ausgehen. Diese Zeiten sind vorbei.
Ein Luxusproblem? Vorsicht: Es gibt sehr gute Gründe, Einkommen mit zunehmender Höhe überproportional stärker zu besteuern. Das ermöglicht eine gewisse Umverteilung. Wenn nun aber auch Sebastian Kurz ausschließlich kleinere und mittlere Einkommen weiter entlasten möchte, ansonsten aber am Gesamtsystem nichts ändern will, verschärft er Verhältnisse, die ohnehin schon bemerkenswert sind. Wie hier berichtet, tragen die obersten elf Prozent der Lohn- und Einkommensbezieher fast 60 Prozent des Lohn- und Einkommensteueraufkommens. Netto wird ihnen genug übrigbleiben, das aber ist nicht der Punkt: Es geht darum, welchen Anreiz es bei Steuersätzen von 50 oder 55 Prozent gibt, entsprechend viel zu verdienen. Bzw. darum, ob nicht Tausende höhere Einkommen anstreben würden, wenn diese Sätze niedriger wären.
Gar kein Luxusproblem ist die kalte Progression: Sie trifft auch Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und ist nach Einschätzung von „Presse“-Kolumnist Josef Urschitz zweifellos leistungsfeindlich: Insofern nämlich, als Einkommensteile besteuert werden würden, „die real gar nicht existieren, weil sie von der Inflation weggefressen werden“. Das hat was. Und selbst wenn man die kalte Progression verteidigt, ist das Argument schlecht, dass die zusätzlichen Steuereinnahmen, die sich daraus ergeben, politische Gestaltungsspielräume eröffnen würden: Der Spielraum wird mehr denn je einzig und allein dafür genützt, Steuerzahlern im Rahmen sogenannter Entlastungen alle paar Jahre gönnerhaft das zurückzugeben, was ihnen zuvor abgenommen wurde.
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