ANALYSE. Der Bundeskanzler will über eine Entlastung reden. Also: Die Erfüllung eines wiederholten Wahlversprechens ist überfällig.
Die wirtschaftliche Erholung bekommt auch der Finanzminister zu spüren: Von Jänner bis Mai lagen die Steuereinnahmen des Bundes, die er zum Teil an Länder und Gemeinden weiterleitet, um zwölf Prozent bzw. mehr als dreieinhalb Milliarden Euro über dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. Mit den 35,95 Milliarden Euro ist auch fast schon wieder das Niveau des Jahres 2019 erreicht.
Bemerkenswert ist die Entwicklung des Lohnsteueraufkommens. In den ersten fünf Monaten ist es um knapp vier Prozent auf 11,67 Milliarden Euro gestiegen. Im vergangenen Jahr, als der Beginn der Pandemie in diese Zeit fiel, gab es so gut wie keine Zunahme. Unter anderem die Kurzarbeit hatte einen Rückgang verhindert.
Das Lohnsteueraufkommen wird nicht nur durch Beschäftigungslage und Lohnsumme getrieben, sondern auch durch eine schleichende Steuererhöhung: die Kalte Progression. Sie könnte in absehbarer Zeit besonders heftig ausfallen. Insofern ist es gut, dass sich Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zwar für eine Entlastung ausspricht, ohne ins Detail zu gehen, damit aber dazu einlädt, an ein altes Wahlversprechen zu erinnern, das auch Eingang ins aktuelle Regierungsprogramm gefunden hat.
Die Aussichten auf die Herbstlohnrunden sind – zumindest für Arbeitnehmer – ausgesprochen günstig: Arbeitskräfte sind in immer mehr Branchen gesucht, da und dort gibt es gar einen Mangel. Das erhöht die Chance für größere Lohnerhöhungen, die insbesondere auch die Teuerung wettmachen, die angezogen hat.
Umso mehr aber stellt sich auch die Frage an die Politik, ob sie über die Kalte Progression weiter überproportional stark mitschneiden möchte bei Lohnrunden oder ob sie darauf verzichtet. In der Vergangenheit waren sich so gut wie alle Parteien zumindest vor Wahlen einig, dass die Kalte Progression fallen soll.
Die bestimmende ÖVP versprach dies nicht nur 2017, sondern auch in ihrem Wahlprogramm 2019. Zitat: „Die kalte Progression ist die schleichende Steuererhöhung durch die starren Grenzsätze des progressiven Lohnsteuertarifs. Mit jeder Lohnerhöhung zahlt man nicht den durchschnittlichen Steuersatz mehr, sondern den Grenzsteuersatz. Damit diese zusätzliche jährliche Steuerbelastung abgeschafft wird, setzt sich die neue Volkspartei für eine regelmäßige Anpassung der Grenzwerte für die Progressionsstufen und ein Ende der kalten Progression ein.“
Zwischendurch war Sebastian Kurz freilich auf Distanz dazu gegangen. Im Frühjahr 2019 erklärte er laut „Wiener Zeitung“: „Die reine Abschaffung der kalten Progression halte ich nicht für besonders sozial.“ Denn davon würden vor allem Personen mit höheren Einkünften profitieren. Wenige Monate darauf war er im Lichte der Neuwahl jedoch wieder für eine Abschaffung, wie das zitierte Wahlprogramm unterstreicht.
Im geltenden Regierungsprogramm ist von einer „Prüfung einer adäquaten Anpassung der Grenzbeträge für die Progressionsstufen auf Basis der Inflation der Vorjahre unter Berücksichtigung der Verteilungseffekte“ die Rede. Genaueres ist offen. Das nährt den Verdacht, dass in Wirklichkeit keine Abschaffung geplant ist: Einer solche würde der Politik nicht nur Gestaltungsmöglichkeiten rauben, sondern auch die Möglichkeit, alle paar Jahre gewissermaßen gönnerhaft eine Entlastung zu gewähren.
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