ANALYSE. Nehammer und Babler müssen bei den Regierungsverhandlungen gleich zwei Zeitenwenden gerecht werden. Auch wenn’s aufgrund vieler Versäumnisse und eigener Schwächen wehtut und schwierig ist.
Mit Jahrzehnten des Friedens und einem verbreiteten Neutralitätsverständnis ist etwas Verhängnisvolles einhergegangen. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wird das deutlich: Es fällt schwer, sich mit Fragen der Wehrhaftigkeit und der Verteidigung auseinanderzusetzen. Man hat es nie getan und ist es daher nicht gewöhnt. Es zu tun, löst umso mehr Unbehagen und Stress aus. Also wird es verdrängt, in der Hoffnung, dass sich die Dinge schon irgendwie lösen werden.
In Wirklichkeit wird gerade dadurch jedoch alles nur noch schlimmer. Zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kommt jetzt nämlich ein amerikanischer Präsident, der unberechenbar ist und auf den man sich daher nicht verlassen kann. Der anders als Putin, aber ebenfalls eine Bedrohung für die westliche Demokratie darstellt.
Unter diesen Umständen muss mehr denn je mit dem Schlimmsten gerechnet werden, bietet die Neutralität weniger Schutz denn je. Zumal sie einst ja nur möglich geworden ist für Österreich, weil es ein Gleichgewicht des Schreckens gab; weil es auf der einen Seite die NATO mit den USA und auf der anderen Seite den Warschauer Pakt mit der UdSSR gab. An der Stelle der UdSSR kann man heute Russland sehen, die USA könnten unter Donald Trump als Gegengewicht in Europa wegfallen. Womit die Neutralität im ursprünglichen Sinne erst recht nichts mehr garantieren würde.
Natürlich könnte man sich überlegen, ihr eine neue Funktion zu geben, die Österreich so interessant macht für diverse Kräfte in der Welt, dass es dadurch auch geschützt ist. Aber welche? Wo sind die Ideen? Klar: Schwierige Fragen. Aber wenn man darauf keine Antwort hat, muss man aufhören, so zu tun, als wäre die Neutralität weiterhin gut und wichtig. Dass sie identitätsstiftend ist, wie es im „Nehammer-Österreich-Plan“ heißt, reicht nicht.
Zweitens: Man müsste im Übrigen gerade aufgrund der Umbrüche die Verteidigungsfähigkeit stärken, wie es laut Neutralitätsgesetz ja sogar Pflicht ist. Doch nicht einmal das passiert. Weil eben so ein unangenehmes, unpopuläres Thema. Schlimmer: Schwache Parteien in der Krise tun sich unter diesen Umständen besonders schwer, es aufzugreifen. Gemeint sind ÖVP und SPÖ.
Das rächt sich. Doch dazu später. Die einzige verteidigungspolitische Reaktion auf die erste Zeitenwende, also den Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, war, mehr Geld für das Bundesheer aufzustellen und eine Teilnahme an „Sky Shield“ in die Wege zu leiten. Das ist zu wenig. Zumindest notwendig wäre darüber hinaus die Wiedereinführung verpflichtender Milizübungen und eine Verlängerung der Wehrdienstzeit. Bei den derzeitigen sechs Monaten geht sich keine Ausbildung aus.
Das ist bekannt. Weil aber nicht und nicht begonnen wird, eine offene Auseinandersetzung mit Bedrohungen und Risken zu führen, die auch zu einer Bewusstseinsbildung in größeren Teilen der Bevölkerung beitragen könnte, kann es kein breites Verständnis ebendort geben für derlei, bleibt es daher politisch tabu.
Wer profitiert wieder einmal? Herbert Kickl. „Sky Shield“ hat er im Wahlkampf gerne bei jedem Auftritt eine Absage erteilt. Dem hemmungslosen Populisten ist die Sache ja vollkommen egal. Er wusste, dass das ankommt bei sehr vielen Leuten: Es hat schließlich niemand versucht, ihnen eingehend zu erklären, warum die Raketenabwehr wichtig sei; warum das nur im Verbund mit anderen Ländern funktioniere; und wie das mit der Neutralität vereinbar sei. Aus Angst, damit ausschließlich Unbehagen auszulösen, hat man es unterlassen, darüber zu reden.
Das Drama geht noch viel weiter: Es gibt kaum ein europäisches Land, in dem die EU derart unten durch ist bei der Bevölkerung wie in Österreich. Kein Wunder: Jahrelang hat bei weitem nicht nur die FPÖ Brüssel als großes Übel dargestellt. Hat auch eine Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) in Bezug auf die Renaturierung gemeint, dass von dort bloß ein „weiteres Diktat“ komme.
Jetzt müsste die Kleinstaaterei ein Ende haben. Wäre infolge der US-Wahl, die eine zweite Zeitenwende innerhalb kurzer Zeit darstellt, ein starkes Europa gefragt. Aber wie bei einer solchen Stimmungslage dafür werben, zumal es letzten Endes noch immer eine Mehrheit dafür braucht? Schwierig. Karl Nehammer (ÖVP) und Andreas Babler (SPÖ) werden dem jedoch gerecht werden müssen bei den Regierungsverhandlungen.