ANALYSE. Schwarz-Blau ist nicht daran interessiert, den Lernprozess nachzuvollziehen, den das bürgerliche Vorarlberg gemacht hat. Das ist entlarvend.
Dass Vorarlberg heute mit rund einem Viertel den höchsten Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund hat, ist vor allem darauf zurückzuführen: Schon vor einem halben Jahrhundert hat die Textilindustrie in ihren letzten Zügen begonnen, billige Arbeitskräfte auf Zeit aus Südostanatolien und anderen Regionen anzuwerben, wo viele Männer kaum bis gar nichts verdienten. Gesellschaftlich wurde kein Ansatz damit verfolgt. Es ging einzig und allein um sogenannte Gastarbeiter, die in den Fabriken einfachste Jobs erledigen und für die übrige Zeit in baufälligen Rheintalhäusern und somit aus dem Alltagsbild verschwinden (was sie zunächst auch taten).
Heute weiß man, dass das dumm war. Doch die Politik ist in Vorarlberg lernfähig: Sie hat darauf reagiert, dass diese Leute unter diesen Umständen nicht nur nicht Deutsch lernten und dass sie zum ewigen Hilfsarbeiterdasein verdonnert waren; sondern dass sie ihrem Menschenrecht entsprechend irgendwann auch ihre Angehörigen nachholten, um ein bisschen ein Familienleben fristen zu können; daraus musste zwangsläufig eine Parallelgesellschaft entstehen, die kaum ein Kind hervorbrachte, das den sozialen Aufstieg schaffte.
Ausgerechnet im ÖVP-regierten Vorarlberg hat man, zum Teil auch mit freiheitlicher Zustimmung, also darauf reagiert. Initiativen mit programmatischen Namen, wie „okay.zusammen.leben“, gegründet und irgendwann sogar den Schritt getan, sich für eine Gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen auszusprechen. Ja, nicht nur Sozialdemokraten und Grüne, sondern vor allem auch die Volkspartei und zeitweise auch die FPÖ haben das Projekt einer Gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen vorangetrieben: Das kann man als Nicht-Alemanne möglicherweise gar nicht glauben. Es ist aber so. Und es hat einen sehr guten Grund.
Vorarlberg ist ein prosperierendes Land. Dort kann es sich die Politik nicht leisten, irgendwelche Duftmarken nur des kurzfristigen Wahlerfolgs wegen zu setzen.
Vorarlberg ist ein prosperierendes Land. Dort kann es sich die Politik gar nicht leisten, irgendwelche Duftmarken nur des kurzfristigen Wahlerfolgs wegen zu setzen. Sie muss vielmehr tun, was die gesamte Gesellschaft weiterbringt. Und dazu zählt eben auch, darauf zu achten, die Talente und Fähigkeiten aller Kinder zu fördern und sie zu jeweils höchstmöglicher Bildung zu führen. Das ist letzten Endes zum Nutzen aller. Ihrer selbst, der Wirtschaft (sie kommt die Fachkräften, die sie nötig hat) und vor allem auch der gesamten Gesellschaft (sie kann sich weiterentwickeln).
Diese Geschichte zeigt, wie verantwortungslos die schwarz-blauen Ansätze auf Bundesebene sind. „Asyl auf Zeit“ mit eigenen Flüchtlingslagern, separiert an den Stadträndern (Forderung des künftigen FPÖ-Klubobmanns Johann Gudenus), Kürzung von Sozialleistungen für Zuwanderer, Erschwerung des Zugangs zur österreichischen Staatsbürgerschaft – all das ähnelt in gewisser Weise dem Gastarbeiter-Modell der 1960er Jahre. Mit drei, vier entscheidenden Unterschieden: Vor 50 Jahren hat man sich nicht viel dabei gedacht; man war an Arbeitskräften interessiert. Diese Menschen waren also zumindest so gesehen willkommen. Politische Signale an die (schon länger) einheimische Bevölkerung, die das möglicherweise beunruhigte, gab es damals nicht. Heute geht es eher nur noch um sie; und zwar auch um den Preis, dass die gesellschaftlichen Konflikte, die die Umsetzung provoziert, zur Explosion führen.