ANALYSE. Der Bundeskanzler verblüfft mit einer paar Qualitäten, die er immer schon hatte, jetzt aber erst so richtig ausspielen kann. Allein: Die Nagelprobe ist noch ausständig.
Sebastian Kurz hat sich zum Glück verschätzt: Als klar war, dass es wirklich ernst werden würde mit dem Coronavirus, sagte er am 12. März vor dem Bundesrat, dass es in wenigen Tagen mehr als 1000 und eine Woche darauf mehr als 10.000 Infizierte geben werde in Österreich. Letzteres geht nicht ganz so schnell, sondern dauert nun circa doppelt so lang. Andererseits: Dazu hat auch Kurz beigetragen. Gemeinsam mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) ist es ihm gelungen, den Leute klarzumachen, dass sie zu Hause bleiben müssen; ja, sie haben es geschafft, die Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass wesentliche Freiheiten ausgesetzt werden müssen. Das ist eine Leistung.
Heute gilt Sebastian Kurz als Überkanzler: Wenn bald Wahlen wären, wäre eine ÖVP-Absolute im Bereich des Möglichen. Ein solcher Urnengang hätte einen „Wir sagen Danke!“-Charakter: Kurz hat uns mit ruhiger Hand durch die Krise geführt und uns vor noch Schlimmerem bewahrt.
Doch Vorsicht, die Krise geht erst los. Was Kurz bisher in herausragender Art und Weise getan hat, war Krisenkommunikation: Er wirkt ruhig, ist klar, strukturiert und deutlich. Das reicht zunächst. Es hat geholfen, dass man hierzulande früher in Deckung gegangen ist als anderswo; und dass es daher eher gelingen könnte, die COVID-19-Steigerungsraten abzuflachen.
In der Sache selbst ist auch der Kanzler angesichts der Jahrhundert-Gesundheitskrise ohnmächtig. Er kann sagen, dass 15.000 Tests pro Tag durchgeführt werden sollen; in der Praxis funktioniert das nicht einmal annähernd. Er kann Hoffnungen auf eine Auferstehung nach Ostern wecken, muss mehr und mehr jedoch selbst einräumen, dass das illusorisch ist. Geographisch wiederum endet seine Macht an der Grenze von Salzburg zu Tirol, obwohl dahinter überforderte Parteikollegen von ihm bestimmend sind.
Zusammengefasst: Der Punkt ist, dass Sebastian Kurz gerade seine herausragende Qualifikation zu größtmöglicher Perfektion treibt. Und das ist die Rhetorik bzw. reden und schwer verunsicherte Zuhörer beruhigen. Konkrete Taten bzw. Maßnahmen können nicht daran heranreichen. Dazu wären Wunder nötig.
Abgesehen davon fällt auf, dass Kurz sich selbst gerade auch in diesen Tagen und Wochen treu bleibt: Flüchtlingshilfe lehnt er in der Sunde eigener Not erst recht ab, selbst wenn die Männer, Frauen und Kinder auf griechischen Inseln dem Fieber erliegen. Die EU werde sich „eine kritische Auseinandersetzung“ über ihre derzeitige Performance gefallen lassen müssen, kündigt er an, ohne zu sagen, was das Problem ist. Nicht Brüssel, sondern der Egoismus einzelner Mitgliedstaaten. Ja, auch Österreichs: An der Debatte darüber, wie man Ländern wie Italien eine Zukunft schenken könnte, beteiligt man sich nur destruktiv, indem man Corona-Bonds ablehnt und (!) keine Alternative präsentiert.
Wenn vorhin davon die Rede war, was wäre, wenn demnächst Wahlen wären, dann muss man hinzufügen, dass das erstens schon rein praktisch kein Thema sein kann und zweitens die Krise erst los geht: Auch für Sebastian Kurz kommt die Nagelprobe erst.
Wie sich die Gesundheitskrise entwickelt, ist nicht zu sagen. Eher absehbar sind die budgetären, die wirtschaftlichen und die sozialen Folgen. Da genügt schon, was vorliegt: Sehr viele Menschen ohne Job, die zum Teil nicht einmal über den morgigen Tag hinaussehen. Unternehmen, denen es so ähnlich geht. Selbstständige, die sich über staatliche Hilfszusagen freuen und dann an der ganzen Bürokratie dazu verzweifeln. Und ein Budget, das aus dem Ruder läuft. Da wird Kurz einen neuen Kurs definieren müssen. Symbolische Maßnahmen und „Steuern senken“ werden genauso wenig Programm bleiben können wie Nadelstiche gegen Arbeitslose und Mindestsicherungsbezieher. Das sind zu viele, die unverschuldet abstürzen.
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