ANALYSE. Die Vorstellung, dass der FPÖ-Chef im Falle des Falles anderen das Kanzleramt überlässt oder dann zum Beispiel fix Rot-Türkis kommt, ist naiv. Besonders Sozialdemokraten sollten sich diesbezüglich keine Hoffnungen machen.
Der freiheitliche Zug hat Fahrt aufgenommen. Wie unter Jörg Haider in den 1990ern und unter Heinz-Christian Strache in den 2010ern nähert er sich nun auch unter Herbert Kickl dem Kanzleramt. Sollte er dem Ziel nach der nächsten Nationalratswahl nahe sein, wird er nicht darauf verzichten, sich darum zu bemühen. Das anzunehmen, ist naiv. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen wird sich kaum in den Weg stellen können, wenn Kickl eine parlamentarische Mehrheit zusammenbringt.
Solche Vorstellungen übersehen, dass Kickl bereits Druck auf sich selbst aufbaut: Er sieht sich als Kanzlerkandidat, weckt Hoffnungen. Diesen muss er gerecht werden. Alles andere würden ihm seine Anhänger nicht verzeihen. Kickl könnte zurücktreten, zumal niemand so sprunghaft ist wie FPÖ-Wähler. Sie verabschieden sich ruckzuck in sehr großer Zahl, wenn sie enttäuscht werden. Es braucht dann Jahre, sie zurückzuholen.
Abgesehen davon lehrt die Geschichte Kickl Folgendes: Davon, dass die FPÖ als zweitstärkste Partei im Jahr 2000 das Kanzleramt der Nummer drei bzw. Wolfgang Schüssels ÖVP überließ, hatte sie nichts. Es bescherte ihr eher nur Probleme. Am Ende kam Jörg Haider nicht zurecht damit, gab es „Knittelfeld“, eine Wahlniederlage und eine Spaltung (BZÖ).
In der türkis-blauen Koalition stimmten die Mehrheitsverhältnisse zwar, war Sebastian Kurz als Obmann der größeren Partei Kanzler, er nützte die Ibiza-Affäre aber, um die FPÖ bei erstbester Gelegenheit sehr tief fallen zu lassen.
Außerdem: In Regierungsverantwortung ist die FPÖ bisher immer recht schnell verglüht. Das hatte zwei Gründe: Zum einen konzentrierte sie sich darauf, zuzugreifen und sich den Teil der Macht zu holen, der ihr ihres Erachtens zusteht. Zum anderen ist sie grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, verspricht sie aus Prinzip doch eher nur ultimative, aber nicht erreichbare Lösungen (z.B. Stopp der Teuerung).
Kickl wird vor diesem Hintergrund im Falle eines Wahlsiegs den Anspruch aufs Kanzleramt erheben und bei der Gelegenheit gerne auch (Lippen-)Bekenntnisse zu Menschenrechten und Europa abgeben, wie sie das Staatsoberhaupt wohl verlangen würde. Er hat keine Zeit zu verlieren. Genauer: Mit der Zeit bzw. jedem Zögern und jedem Verzicht würde er sehr wahrscheinlich nur verlieren.
Es erscheint wichtig, dass man sich dessen bewusst ist. Türkise sollten nicht glauben, dass sie noch einmal als Dritte das Kanzleramt bekommen, Sozialdemokraten, dass sie auch dann Chancen auf ebendieses haben, wenn sie bei der nächsten Nationalratswahl hinter der FPÖ bleiben (z.B. im Rahmen einer rot-türkisen Koalition). Wenn, dann ist in einem solchen Fall nicht nur inhaltlich Blau-Türkis naheliegender.
Gerade die SPÖ muss daher anfangen, sich von sich aus um den größten Zuspruch in der Wählerschaft zu bemühen. Damit sie letzten Endes als erste den Regierungsbildungsauftrag erhält und am besten mehrere Optionen hat, darunter auch eine Ampel.
Interessanterweise hat bisher erst ein Sozialdemokrat öffentlich Verständnis dafür gezeigt: Hans Peter Doskozil, der in einem Kurier-Interview am vergangenen Wochenende eine Zusammenarbeit mit Neos und Grünen zum Ziel erklärte. Es wirkte seltsam, ziehen die Freiheitlichen bei stabilisierten Werten für die Türkisen doch so sehr davon, dass es keine Mehrheit mehr für Rot-Pink-Grün gibt. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch um eine Aussage darüber, was es anzustreben gilt. Der Mann hat sich einmal mehr als Spitzenkandidat in Stellung gebracht.
SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner wäre gut beraten, ihn einzubinden oder herauszufordern: Mit einer Ansage pro Ampel geht immerhin das Versprechen einher, eine Alternative zu blauer, aber auch türkiser Politik vorzulegen. Zu Asyl und darüber hinaus. Das gehört auf den Tisch.