Leidkultur

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ANALYSE. Je länger darüber diskutiert wird, worauf es ankommt in Österreich, desto größer wird die Krise: Es gibt keinen Konsens darüber, was es ist. Genauer: Es ist unmöglich. Siehe Verfassung.

ÖVP-Chef, Kanzler Karl Nehammer ist es immerhin gelungen, Themen zu setzen, mit denen Signale verbunden sind. Damit hat er erreicht, was er wollte. Mit seiner Ankündigung, Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) eine „Leitkultur“ vorschlagen zu lassen, zu der sich Zuwanderer künftig verpflichten sollen, wird er Bedürfnisse rechts der Mitte wohl schon befriedigt haben. Da hätte er den Zusatz nicht mehr gebraucht, dass es gut sei, so wie „wir“ sind und sich daher alle, die neu dazukommen, schlicht anzupassen hätten.

Er will das Feld nicht der FPÖ und Neos möchte es nicht allein ihm überlassen. Obfrau Beate Meinl-Reisinger versuchte in einem Interview mit der Gratiszeitung „Heute“, das Ganze auf eine aufgeklärte Ebene zu heben, indem sie vorschlug, dass mit Einbürgerungen ein Treueschwur auf die Verfassung einhergehen sollte – wie in den USA.

Das Problem wird damit nicht kleiner: Schwer- bis unfassbare Begriffe wie „Leitkultur“ und „Werte“ bleiben zwar erspart und es wird auf etwas vermeintlich Fassbares, nämlich die Verfassung, verwiesen. Gerade sie ist in Österreich aber unbrauchbar für das, was hier beabsichtigt ist.

In den USA beginnt die Verfassung mit einer Präambel, in der zunächst einmal Grundlegendes festgehalten wird. In Deutschland ist es bei der Verfassung, die dort Grundgesetz heißt und aus dem Jahre 1949 stammt, ähnlich: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. (…)“

In den ersten Artikeln folgt Wesentliches, was hierzulande vielleicht mit dem Begriff „Werte“ gemeint ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Oder: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Oder: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.(…) Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Oder: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

Vergleichbares wird man in Österreich auch finden. Aber nicht so. In Österreich hat die Bundes-Verfassung keine Präambel und in den ersten Artikeln geht es eher (nur) um organisatorisches, wie „demokratische Republik“, „Bundesstaat“ und „Bundesgebiet“.

Schlimmer: Es gibt daneben zwar auch ein Grundgesetz, das inhaltlich sehr weit entfernt mit Erwähntem in Deutschland verwandt ist, es stammt aber aus dem Jahre 1867. Wobei nicht das Alter das Problem ist (die US-Verfassung ist noch älter). Das Problem ist, dass man es in der Republik übernommen hat, weil man sich auf nichts Entsprechendes einigen konnte (!); und dass man zur Not halt rausgestrichen hat, was gar nicht geht. Artikel 1 beispielsweise: „Für alle Angehörigen der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder besteht ein allgemeines österreichisches Staatsbürgerrecht.“ Oder ein Satz aus Artikel 4 etwa: „Abfahrtsgelder (bei der Auswanderung; Anm.) dürfen nur in Anwendung der Reziprozität erhoben werden.“

Der Punkt ist: Man kann zur Not vielleicht sagen, die Leitkultur sei die Verfassung und damit sei auch das gemeint, was vom ursprünglichen Grundgesetz erhalten geblieben ist oder die Europäische Menschenrechtskonvention, die 1964 Teil der Verfassung geworden ist. Aber das ist Stückwerk. Was fehlt, sind erste Artikel wie im deutschen Grundgesetz; und zwar am besten auf die Höhe der Zeit gebrachte und so gestraffte, dass man sie auf einem Blatt Papier ausdrucken und in jedem Klassenzimmer und in jedem Amt aufhängen kann, sodass sichtbar wird, was in einer aufgeklärten Gesellschaft unumstößlich ist.

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