Neutralität im Weg

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ANALYSE. Österreich braucht dringend eine Auseinandersetzung mit der Sicherheitslage. Das könnte Dinge möglich machen, die heute undenkbar sind.

Gleich sechs Mal wird im neuen Regierungsprogramm betont, dass Österreich neutral sei und sich auch dazu bekenne. Zugleich wird zwar beteuert, dass man sich aktiv an der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und (!) „der kommenden Entwicklung der Europäischen Verteidigungsunion“ beteilige, gut möglich jedoch, dass man mit Neutralitätsbekenntnissen heute umso vorsichtiger wäre. Das könnte nämlich wirklich zu einer Option werden, der die Neutralität im Weg steht.

„Wir müssen den Frieden in Österreich strategisch absichern“, sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei der Angelobung der schwarz-rot-pinken Regierung: „Wir sind in den letzten Wochen und Tagen Zeugen einer historisch ungesehenen Eskalation geworden. Die weltpolitische Lage ist instabil in einem Maß, das uns alle zum Handeln zwingt.“ Und: „Der Krieg in der Ukraine, geopolitische Spannungen und neue Sicherheitsbedrohungen verlangen eine kluge Friedens- und Verteidigungspolitik. Eine, die die Interessen Österreichs, der Europäische Union und unseren Frieden schützt.“

Es wäre dumm, als erste Konsequenz die Abschaffung der Neutralität zu fordern. Man darf sich durch sie aber auch nicht Optionen verbauen, die sich möglicherweise ergeben. Anders ausgedrückt: Wenn man’s über die Neutralität anlegt, bleibt man immer an dieser hängen. Drei Viertel der Österreicherinnen und Österreicher wollen, dass sie bleibt. Von der nötigen Mehrheit dagegen ist man weit entfernt.

Warum? Weil die Neutralität an sich Bestandteil der Identität ist und mit guten Dingen verbunden wird. Mit Frieden und mit einer Vermittlerrolle. Sowie mit Nichtzugehörigkeit zu einem Militärpakt. Und weil das umgekehrt so lange gut ist, so lange es keine Auseinandersetzungen mit der Bedrohungslage von heute gibt. Erst durch eine solche könnten sich Sichtweisen ändern.

Hier wäre daher anzusetzen. Man kann Van der Bellen auch so verstehen: Unser Frieden ist nicht mehr geschützt. Wie müssen handeln. Wie? Aus österreichischer Sicht hat es sogar etwas Gutes, dass die Option Nato-Beitritt de facto keine mehr ist. Sie hat den Zuspruch zur Neutralität eher noch erhöht.

Es ist jedoch beklemmend, dass die weltgeschichtlichen Ereignisse der vergangenen Tage hierzulande zu keiner Debatte geführt haben. Dass es selbstverständlich ist, dass Österreich bei Sondergipfeln in Paris und London nicht vertreten ist. Wenn, dann erfolgen jedoch gerade dort Weichenstellungen zur künftigen Verteidigung Europas. Da wäre es nicht nur relevant, wie die FPÖ dazu steht („Nein“), sondern wie das auch von ÖVP, SPÖ, Neos und Grünen sowie der neuen Regierung gesehen wird.

Neos mögen sich da am wenigsten vorzuwerfen haben, sie fordern schon lange ein Verteidigungsunion. Bloß: Wie kann eine solche auch nur eine Option sein, wenn man sich als Regierung mehrfach zur Beibehaltung der Neutralität bekennt?

These: Die Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher könnte durchaus für eine grundsätzliche Neuausrichtung gewonnen werden. Erstens: Bei der Gallup-Umfrage, bei der sich vor einem Jahr 74 Prozent für die Beibehaltung der Neutralität ausgesprochen hatten, war für 75 Prozent klar, dass man nicht ausreichend gegen militärische Angriffe aus dem Ausland gerüstet ist. Das ist ein Hinweis: Wenn die Frage erörtert würde, wie man sich ausreichend schützen könnte, könnte es sich durchaus eine Mehrheit für eine europäische Antwort ergeben. Zumal laut Eurobarometer-Erhebung ohnehin schon über 50 Prozent der Österreicher für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik wären. Wie sie das mit der Neutralität zusammenbringen? Darüber zu spekulieren, ist müßig. Der Punkt ist: Die Leute könnten abgeholt werden.

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