ANALYSE. Der Kanzler ist zu wenig Politiker – er ist zu wenig bei Leuten und redet zu wenig. Das ist ein Problem.
Reden sei Silber, Schweigen sei Gold, heißt es. Gut ein Jahr, nachdem Christian Stocker die Führung der ÖVP und später auch das Kanzleramt übernommen hat, kann man feststellen, dass es in seinem Fall eher umgekehrt ist.
Zunächst hatte es etwas Wohltuendes: Mit Stocker kam die Ruhe. Das war aber nicht Teil einer Strategie, sondern einer Sprach- und Planlosigkeit. Heute kann man das mehr denn je behaupten.
Der 65-Jährige hat in all den Monaten keine wesentliche Rede gehalten. Zum Substanziellsten gehört die „2:1:0-Formel“, die für seine Ziele stehen: Maximal zwei Prozent Inflation, mindestens ein Prozent Wirtschaftswachstum und null Toleranz gegenüber Extremismus zum Beispiel. Im Übrigen steht er für Kompromisse. Aber Inhalte? In welche Richtung sollen Kompromisse gehen, wohin soll sich Österreich, wohin die Gesellschaft entwickeln?
Christian Stocker mag schon lange in der Politik und etwa auch Vizebürgermeister von Wiener Neustadt gewesen sein. Ob er Politiker ist, ist jedoch fraglich. Dazu würde gerade heute gehören, draußen bei Leuten zu sein.
Herbert Kickl wird nicht gewählt, weil sich die, die das tun, erwarten, dass er alles besser macht. Er wird gewählt, weil er vielen das Gefühl vermittelt, ihre Sorgen und Nöte zu verstehen; und weil er diese Sorgen und Nöte gleich auch befeuert, sodass eine engere Bindung mit seinen Wählern entsteht.
Nicht dass ein Kanzler Stimmmungen populistisch befeuern sollte. Er könnte sich aber einen ganzen oder einen halben Tag pro Woche freischaufeln, um zum Beispiel Bürger:innen-Gespräche zu führen. Um sich mit ein paar hundert Leuten auf einem Stadtplatz oder in einem Gemeindesaal zu treffen, zuzuhören und zu reden. Das wäre ein Signal – für jene vor Ort und für viele darüber hinaus, die wahrnehmen, dass der Regierungschef ein offenes Ohr hat.
Bei der Gelegenheit könnte er vor allem auch konsequent Themen ins Spiel bringen, die wichtig sind. Neben der Teuerung etwa die Frage, was die budgetären Perspektiven bedeuten und welche Handlungsmöglichkeiten er sieht. Oder die Frage, was die Sicherheitslage in Europa für Österreich zur Folge hat.
Solche Themen kann man ja nicht ewig verdrängen. Sonst muss die Regierung entweder gegen jegliches Verständnis einer Mehrheit unpopuläre Maßnahmen durchsetzen – oder sie schreckt davor zurück und lässt es sein, um nicht noch mehr zu verlieren.
So wie es gerade bei der Wehrdienstreform läuft: Hier hat es Stocker, hat es „seine“ Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) bisher verabsäumt, ein Problembewusstsein zu schaffen: „Warum soll der Dienst länger dauern?“ Ergebnis: Der Zuspruch zu einer Veränderung ist grundsätzlich überschaubar, also hat Tanner angefangen, zurückzurudern. Nachdem sie eine Kommission eingesetzt hat, die konkrete Vorschläge entwickeln soll, lässt sie zunehmend wissen, dass sie keine Verlängerung will.