ANALYSE. Die ÖVP muss sich jetzt erneuern. Das tut sie nur, wenn es bald Neuwahlen gibt. In einer Regierungsbeteiligung “ vergisst“ sie darauf, verschlechtert sich ihr Zustand bloß weiter.
ÖVP-Politikern vom Boden- bis zum Neusiedlersee steht es nicht zu, zu fordern, dass die SPÖ ihren Vorsitzenden Andreas Babler durch eine Person ersetzt, mit der die Volkspartei vielleicht koalieren könnte. Zumal sie die Option einer Jetzt-halt-doch-Zusammenarbeit besser nicht in den Raum stellt; und zumal sie sich selbst der Obmannfrage widmen sollte.
Ein Grundproblem der Lage Österreichs ist nicht nur, dass mit Herbert Kickl (FPÖ) ein radikaler Politiker seine Partei zur relativ stärksten Kraft machen konnte. Es ist vor allem auch, was dies ermöglicht hat: Die Krise der Mitte. Beziehungsweise die Tatsache, dass die ÖVP diese Mitte in den vergangenen Jahren aufgegeben hat, um rechts davon herumzuirren. Zuerst unter Sebastian Kurz und dann unter Karl Nehammer, der heute über Normalität und morgen über Leitkultur zu reden versuchte, ohne auch nur einen Satz dazu zusammenzubringen.
In den meisten Bundesländern hat sich diese ÖVP aufgegeben und durch Koalitionen mit den Freiheitlichen auch freiheitlichen Inhalten zum Durchbruch verholfen. Von Straßenbau über Kopftuchverbot (Steiermark), Coronaentschädigungen und Deutschpflicht in Schulpausen (NÖ) bis zur Förderung des Nikolausfestes (flächendeckend). Reine Symbolpolitik, die zu keiner Verbesserung der Verhältnisse führt.
Auf Bundesebene hat die ÖVP jetzt die Notbremse gezogen. Nicht mit Kickl. Aber was jetzt? Christian Stocker, ihr Obmann, ist ein Mann des Übergangs. Auch nur den Wunsch zu äußern, dass er jetzt eine Dreiparteienkoalition mit SPÖ und Neos bilden könnte, sollte man sich zweimal überlegen.
Die Gefahr wäre groß, dass nur ein Dahinwurschteln herauskommen würde. Einzig, damit Kickl nicht Kanzler wird und auch keine Neuwahlen stattfinden. Das Risiko wäre groß, dass genau dadurch Kickl nur weiter gestärkt werden würde.
Da wäre eine Expertenregierung schon besser, die Überfälliges wie ein Budget für 2025 regelt. Und die allein schon aus demokratiepolitischen Gründen nur befristet im Amt ist.
Dann sollte gewählt werden. Auch weil die Erinnerung frisch ist, dass Kickl nicht zum Kompromiss und daher auch nicht kanzler-fähig ist. Dass seine Europa- und seine Medienpolitik etwa bedrohlich wären. Darauf könnte man setzen: Eine Absage an Kickl’sche Zugänge.
Zweitens: Der Zustand der ÖVP wird nicht besser, sondern schlechter, wenn sie weiter nicht an sich arbeitet, sondern sich durch Regierungsgeschäfte nur selbst blendet. Daher ist jetzt der beste Zeitpunkt, dass sie sich erneuert bzw. sich erneuern muss, weil ein Wahlkampf ansteht.
Es mag sich einfacher schreiben als es ist. Bei der Erleichterung darüber, dass Kickl jetzt nicht Kanzler wird, kommen Erinnerungen an den Jubel auf dem Ballhausplatz am 18. Mai 2019 auf. Am Tag nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos glaubten viele, nicht nur Türkis-Blau und nicht nur Heinz-Christian Strache, sondern auch Sebastian Kurz sei damit politisch erledigt. Was für ein Irrtum: Kurz kam wenig später zu einem größeren Wahlerfolg, weil die Mitbewerber zu schwach waren.
Vergleichbares muss man heute auch auf der Rechnung haben: Kickl kann die FPÖ bei der früher oder später kommenden Nationalratswahl zu einem größeren Erfolg führen. Wenn unter anderem die ÖVP nicht handelt.
Mit Christian Stocker wird sie kaum in den Wahlkampf ziehen können. Als ehemaliger Generalsekretär, nunmehriger Regierungsverhandler und bald 65-Jähriger kann er schwer glaubwürdig einen Neubeginn verkörpern. Wer aber könnte das? Es ist nicht zu beantworten und daher werden bald wieder die Rufe nach Sebastian Kurz laut werden. Das sagt alles über die Partei. Doch wie gesagt: Wenn sie nicht handelt, verschlechtert sich ihr Zustand nur noch weiter.
Die SPÖ sollte ebenfalls handeln. Nicht weil Andreas Babler der ÖVP nicht gefällt, sondern weil er die Partei weder bei der EU- noch bei der Nationalratswahl zu einem Erfolg führen konnte und weil er bei einer Kanzlerdirektwahl keine 20 Prozent schaffen würde. Das reicht nicht einmal gegen Kickl. Es ist grausam, aber Kickl, der die schlechtesten Vertrauenswerte aller Bundespolitiker hat, würde bei einem solchen Urnengang die relativ meisten Stimmen erhalten. Also: Worauf setzt Babler? Es ist ein Rätsel. Und es ist erbärmlich, wie Heute und Krone oder auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil umgehen mit ihm, aber es hilft nichts. Die Partei braucht einen Vorsitzenden, der ihr trotz solcher Gegner 30 Prozent bringen kann bei Nationalratswahlen.