ANALYSE. Dass die Regierungsverhandlungen trotz allem noch laufen, trägt im besten Fall zu einer breiten Bewusstseinsbildung bei: Es wird für eine größere Masse erst klar, was mit einem Kanzler Kickl wirklich einhergehen würde. Das ist wichtig.
Kann es sein, dass die ÖVP schon seit Tagen versucht, abzuspringen, aber nicht vom Fleck kommt? Ein bisschen wirkt es so: Am Dienstag (11. Februar) beispielsweise hat ihr Obmann, Christian Stocker, wiederholt, dass so viel Substanzielles, wie Rechtsstaatlichkeit oder ein Bekenntnis zu Europa, noch nicht geklärt ist, dass man sich fragen muss, wo es da überhaupt eine Grundlage für eine Zusammenarbeit geben kann. Mehrere Parteifreunde Stockers, Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer, Seniorenbundchefin Ingrid Korosec oder auch der EU-Abgeordnete Reinhold Lopatka, haben öffentlich Zweifel angemeldet: Für Mahrer ist Herbert Kickl (FPÖ) nicht regierungsfit, für Korosec ist eine Koalition mit ihm schwer möglich und für Lopatka hat es wenig Sinn, noch weiter zu verhandeln.
Da muss man sich wirklich fragen: Will die ÖVP nur öffentlich zeigen, dass sie Kickl zu maximal möglichen Zugeständnissen gezwungen hat, indem sie sich wochenlang hart gegeben hat? Oder ist sie intern zerstritten, gibt es also einen Flügel um die Genannten, die nicht mit Kickl wollen, aber Landeshauptleute, die sehr wohl auf eine Koalition drängen? Versucht dieser Flügel daher, durch die Veröffentlichung brisanter Verhandlungsdetails die Öffentlichkeit zu seinen Gunsten zu mobilisieren? Oder geht es schlicht darum, Kickl dazu zu bringen, die Verhandlungen endlich abzubrechen, damit er derjenige ist, der sichtbar die Verantwortung für das Scheitern übernahmen muss?
Nichts davon kann man ausschließen. Das bedeutet, dass Herbert Kickl nach wie vor Kanzler werden könnte. Dass zumindest Dinge kommen, bei denen die Ampel bei den Verhandlungen schon auf grün gestellt ist: Leitkultur-Definition bzw. eine staatliche Definition, wie ein vermeintlich normaler Mensch zu leben hat; Zitierverbot aus Ermittlungsakten bzw. Schwächung des Aufdeckungsjournalismus; Kürzungen bei der Sozialhilfe, weitgehender Asylstopp, Senkung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre etc. Nicht ausgeschlossen ist im Übrigen eine Abkehr von Westeuropa und eine Zuwendung zu Russland, sogenannte Sparmaßnahmen auf Kosten des ORF und anderer Qualitätsmedien und vieles andere mehr, falls die Volkspartei letzten Endes nachgibt.
Warum lassen sich ÖVP, aber auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen, noch immer vorführen von Kickl? Was muss er mehr fordern als „Souveränität statt Zentralismus“, also eine Rückkehr zu Nationalstaatlichkeit bzw. de facto einen Öxit? Anfang Jännern sagte Van der Bellen, er habe mit dem Obmann der freiheitlichen Partei unter anderem über „die konstruktive Stärkung der europäischen Zusammenarbeit in der Union“ gesprochen. Und: „Herr Kickl traut sich zu, hier im Rahmen von Regierungsverhandlungen tragfähige Lösungen zu finden – und er will diese Verantwortung. Ich habe ihn das explizit gefragt.“
Das ist doch nicht mehr ernst zu nehmen. Worauf also warten die ÖVP und Van der Bellen? These: Sie haben in der Vergangenheit verloren gegen Kickl. Beide sind mit ihren Warnungen vor diesem Mann nicht gut genug durchgekommen bei einer Masse. Das mit dem Sicherheitsrisiko hat kaum gezogen. Und am Ende haben viele, auch Nicht-Kickl-Anhänger, gefunden, die FPÖ habe die relative Mehrheit, also müsse er halt Kanzler werden dürfen. Das sitzt tief.
Und daher muss man wirklich überzeugende Argumente gegen Kickl haben. Sprich: Im besten Fall geht es in diesen Tagen vor allem darum, deutlich werden zu lassen, was mit ihm als Kanzler einhergehen würde.
Ist das so, dann kann sogar sehr gut sein, was jetzt läuft. Aber nur dann.
Es ist ein Unterschied, ob man das freiheitliche Wahlprogramm vom vergangenen Jahr überfliegt oder sich jetzt mit dem über 200 Seiten starken Verhandlungsprotokoll auseinandersetzt. Zumal das viele tun. Zum Beispiel Medienorganisationen und Journalisten mit Fragen, die sie betreffen. Genauso wie Wissenschaftler, Pädagogen oder Künstler mit Plänen, die sie tangieren. Oder alle zusammen und viele weitere mehr als Staatsbürger, denen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wichtig sind: Da beginnen Bedrohungen erst zu sickern und ungleich klarer zu werden. Hier findet eine Bewusstseinsbildung bei Tausenden gleichzeitig statt, die sich durch Diskussionen auch noch verstärkt. Das hat das Potenzial, eine größere, neue Bewegung zu ergeben.