ANALYSE. Das Flüchtlingsthema wird möglicherweise genauso keine Rolle spielen wie die Anziehungskraft von Sebastian Kurz allein.
Von Wahlprognosen sollte man besser die Finger lassen. Natürlich gibt es einen Favoriten (die ÖVP-Liste Sebastian Kurz); und natürlich gibt es da eine Partei, für die es im Moment besonders schlecht ausschaut (die noch immer ausschließlich mit sich selbst beschäftigten Grünen). Jetzt ist aber Sommerpause (bis Mitte August auch auf dieSubstanz.at) und das kann so viel Dynamik aus dem Spiel rausnehmen, dass danach fast schon ein neues unter geänderte Rahmenbedingungen beginnen muss.
Abgesehen davon könnten schon ein paar aktuelle Daten all jenen eine Warnung sein, die meinen, die Wahl sei bereits entschieden: In der Kanzlerfrage hat Kurz laut „Spectra“ signifikante Einbußen erlitten (von 31 auf 25 Prozent), während sich Amtsinhaber Christian Kern und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache leicht auf jeweils 21 Prozent verbessert haben. So nah beieinander sind drei Kanzlerkandidaten wenn überhaupt noch nie, dann zumindest schon lange nicht mehr gelegen. In den „Rohdaten“ der IFES-Erhebungen wiederum hat es (wie berichtet) erhebliche Verschiebungen von der ÖVP nicht zugunsten der Umfrageauftraggeberin SPÖ, sondern bemerkenswerterweise zur FPÖ gegeben.
Dass sich der Hype allmählich legt, ist in gewisser Weise natürlich auch im Sinne des neuen ÖVP-Vorsitzenden.
Dass sich der Hype allmählich legt, ist in gewisser Weise natürlich auch im Sinne des neuen ÖVP-Vorsitzenden: Seine Vorgänger könnten ihm lang und breit erzählen, was die größte Gefahr in den Reihen der bürgerlichen Partei ist. Eine Mischung aus Selbstgefälligkeit und Siegessicherheit, die in Summe eine verhängnisvolle Überheblichkeit ergibt. Wobei sich diese Gefahr rund um Kurz zuletzt verstärkt hat: Weil er bisher so weit vorne gelegen ist und ohnehin nur alles auf ihn ausgerichtet ist, ist es ungleich schwieriger für ihn, seine Funktionäre vom Boden- bis zum Neusiedlersee dazu zu motivieren, wirklich bis zur letzten Minute zu rennen, zu rennen und noch einmal zu rennen. Zumindest 1995 und 2006 hat die ÖVP unter solchen Umständen Wahlen bereits überraschend verloren (2008 könnte man auch dazu nehmen, als Wilhelm Molterer meinte, sein Glück bei einem vorgezogenen Urnengang quasi nur noch einfahren zu müssen).
In Deutschland ist der Stimmungswandel bereits in den Wahlkampagnen angekommen.
Auf der anderen Seite sind Kern und Strache wiederum davon abhängig, dass sie eine realistische Chance haben, ihre Parteien auf Platz eins zu führen. Nur so lassen sich ihre Anhänger schließlich ermuntern, eine Kampagne mitzutragen.
Überlagert wird all das freilich durch zwei andere wahlentscheidende Dinge. Zunächst die Themen- und Stimmungslage. Im Moment dreht sich alles um Islam, Flüchtlinge und Integration. SPÖ-Versuche, das durch „Pflege“ zu verdrängen, sind gescheitert. Sehr viel spricht aber darüber, dass sich die Themen- irgendwann mit der Stimmungslage verändern wird. Immer mehr Österreicher finden, dass es ihnen und ihrem Umfeld ganz gut geht. Sie haben die Krisen der vergangenen Jahre überwunden und wollen daher wohl auch nicht mehr länger damit behelligt werden. In Deutschland ist das bereits in den Wahlkampagnen angekommen. Die CDU wirbt beispielsweise mit dem Programmtitel „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“. Vor eineinhalb Jahren, am Höhepunkt der Flüchtlingskrise, wäre das wohl missverständlich gewesen. Heute wirkt es wie eine Ermunterung: „Alles in Butter, machen wir weiter so!“ Und da beschäftigt man sich folglich eher wieder mit Fragen wie einer ordentlichen Kinderbetreuung, sicheren Pensionen oder einer Steuerentlastung („haben wir uns verdient“).
Wer den Stimmungswandel thematisch am besten nachvollziehen kann, hat schon einmal einen ersten Schritt zum Erfolg gesetzt. Zwei, drei weitere sind dann noch nötig. Wobei im Übrigen eine gewisse Glaubwürdigkeit dazukommt: Kann man einem bestimmten Spitzenkandidaten trauen? Was das betrifft, ist wieder Kurz im Vorteil gegenüber Kern und viel mehr noch Strache. Die APA/OGM-Vertrauenswerte könnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch seine Werte gemessen an denen früherer Bundespolitiker bescheiden sind. Alles ist eben relativ, es gibt insgesamt eine größere Vertrauenskrise, die die Sache für jeden Player ziemlich unberechenbar macht.
Die ÖVP-Liste Kurz polarisiert. Das ist nicht schlecht für sie, beinhaltet aber auch ein gewisses Risiko.
Wahlentscheidend sein wird schließlich ein gewisser Spin, der die Wähler beeinflusst. Für sie gibt es zwei ganz wichtige Motive: Sie wählen den Kandidaten XY, weil sie überzeugt von ihm sind; oder sie sind nicht überzeugt von ihm, wählen ihn aber, um einen Mitbewerber zu verhindern. Letzteres hat zuletzt Alexander Van der Bellen geholfen: Ganze 42 Prozent seiner Wähler haben ihn im Dezember laut SORA-Analyse nicht seinetwegen, sondern zur Verhinderung eines Bundespräsidenten Norbert Hofer gewählt.
Das ist kein Zufall: Freiheitliche sind für österreichische Verhältnisse extrem und haben daher auch viele Gegner. Zurzeit polarisieren jedoch nicht nur sie, sondern auch die ÖVP-Liste Kurz; sie hat Fans und Gegner und sonst kaum etwas. Das ist nicht schlecht für sie, beinhaltet aber auch ein gewisses Risiko: Die Gegner werden zur Verhinderung von Schwarz-Blau eher Sozialdemokraten, Grüne oder Neos wählen.