Volkskanzler-Geist

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ANALYSE. Die Argumentation von Karoline Edtstadler im Streit mit Gewessler ist entlarvend. Sie ist, um ein Wort von ihr zu entfremden, „furchterregender“ als die Zustimmung der grünen Ministerin zur Renaturierungsveordnung.

Allmählich sickert’s: Der Volkskanzler-Geist, der von Herbert Kickl betrieben wird, kommt nicht irgendwoher. Sebastian Kurz (ÖVP) hat vor der Nationalratswahl 2017 etwa gefordert, was dem entspricht: Er sprach sich für eine Richtlinienkompetenz des Regierungschefs aus. Dieser sollte einzelnen Ministerinnen und Ministern anschaffen können, was er für notwendig erachtet. „Der Kanzler muss die Möglichkeit haben zu führen und zu entscheiden“, so Kurz vor tausenden, zum Teil türkis gekleideten Anhängern in der Wiener Stadthalle.

Das war ihm wichtig: Nach Jahren einer großen Koalition, die er mit Unterstützung von Leuten wie dem heutigen Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka mit zugrunde gerichtet hatte, wollte er Hoffnungen wecken, dass wieder etwas weitergeht in diesem Land. Dass es zu einer starken Führung kommt, die Nägel mit Köpfen macht.

Dieser Zugang täuscht jedoch darüber hinweg, was mit dem Verhältniswahlrecht einhergeht. Es sind Koalitionen und Kompromisse nötig. Das erfordert Geschick, weniger Autorität. Ja, eine solche Form von Autorität läuft dem sogar zuwider: In Deutschland mag der Kanzler eine Richtlinienkompetenz haben, es ist jedoch undenkbar, dass er diese gegenüber dem Vertreter einer anderen Partei in Anspruch nimmt. Es wäre das Ende der Koalition.

Für eine Tendenz hin zu einem Volkskanzler-Geist steht jetzt auch Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). Es geht um die Zustimmung von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) zur EU-Renaturierungsverordnung. Beziehungsweise darum, dass sie sich dabei nicht auf den Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts, sondern auf Privatgutachten gestützt hat. Natürlich: Das ist heikel. Aber wird hier (erstmals) eine Institution der Republik mit juristischen Privatgutachten konterkariert, wie Edtstadler suggeriert und daher eine furchterregende Entwicklung ortet? Vorsicht.

Erstens: Die ÖVP selbst ist nicht unerfahren dabei, sich durch Privatgutachten eine Entscheidung vorgeblich absegnen zu lassen. Vergleich Gutachten von Wolfgang Mazal zur Indexierung der Familienbeihilfe für Bürgerinnen und Bürger anderer EU-Länder. Sie hat das dann mit der FPÖ durchgezogen. Letztlich ist es durch den Europäischen Gerichtshof als EU-rechtswidrig „verurteilt“ worden.

Zweitens: Der Verfassungsdienst erstellt unter anderem Gutachten, Regierungsmitglieder können aber auch darauf verzichten, um ein solches zu ersuchen. Zu Beginn der Pandemie ist das unter ÖVP-Führung in hochsensiblen Fragen getan worden. Das hat für Schlagzeilen gesorgt. Umgekehrt muss sich kein Regierungsmitglied an eine Ansicht des Verfassungsdienstes halten.

Edtstadlers Darstellung, Gewessler hätte das zu tun gehabt, entspricht einem Volkskanzler-Geist: Es wäre eine Art Richtlinienkompetenz des Kanzleramts bzw. eines Teils der dort angesiedelten, dem Kanzler gegenüber weisungsgebundenen Verwaltung.

Durch eine solche Art Richtlinienkompetenz würde man in ein Extrem kippen: Selbstverständlich ist der Verfassungsdienst relevant. Er hat einer Ministerin jedoch nichts anzuschaffen. Diese hat vielmehr eigenverantwortlich und nach bestem Wissen und Gewissen zu agieren. Gewessler behauptet, dies getan zu haben. Sie hat Privatgutachten der Ansicht des Verfassungsdienstes vorgezogen. Das ist nicht verboten. Es ist Politik. Darüber, ob hier ein Verfassungsbruch vorliegt, sie sich also – frei nach ÖVP-Chef, Kanzler Karl Nehammer – über Recht gestellt hat, hat einzig der Verfassungsgerichtshof zu befinden. Und das ist gut so.

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