Verrannt

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ANALYSE. Die Volkspartei ist in den vergangenen Jahren zu sehr von der Mitte abgewichen, um sich heute allenfalls glaubwürdig gegen Kickl stellen zu können: Auch das schwächt ihre Verhandlungsposition.

Deutschlands Ex-Kanzlerin Angela Merkel sei schuld am Aufstieg der AfD, hat Sebastian Kurz jüngst in einem Interview behauptet. Man könnte auch feststellen, er sei schuld am Aufstieg der FPÖ: Dass er bei sehr vielen Menschen in Österreich Erwartungen geweckt und enttäuscht hat, ist aus heutiger Sicht jedenfalls umso folgenreicher gewesen, als er ja versucht hat, mit freiheitlichen Positionen zu punkten; dass er freiheitliche Positionen also verstärkte – womit die FPÖ heute als Original umso mehr abräumen kann.

Es ist auch eine von mehreren Erklärungen dafür, dass Schwarz-Rot-Punk nicht zustande kommen konnte, sich die ÖVP letzten Endes doch auf Verhandlungen mit der FPÖ von Herbert Kickl einließ: Sie kommt schwer aus dieser Nummer heraus. Sie mag von den Blauen verlangen, von rechts zur Mitte zu rücken, ist aber selbst von der Mitte nach rechts gerückt.

Zu den größten Knackpunkten bei den Gesprächen von Kickl und Christian Stocker (ÖVP) zählen Europa und Sicherheit. Sowie Medienpolitik und die liberale Demokratie. Einerseits. Andererseits: Was, bitte, soll die Volkspartei hier zum Anlass nehmen, die Koalitionsverhandlungen abzubrechen, ohne dann bei Neuwahlen noch tiefer zu fallen als sie es beim Urnengang am 29. September ohnehin schon ist?

Wer sich selbst immer wieder in Populismus versucht, kann schwer etwas gegen eine „Volksgesetzgebung“ einzuwenden haben, die Kickl vorschwebt. Wer „Message Control“ erfunden und willkürliche Inseratenvergaben gepflegt hat, kann sich Kickl’scher Medienpolitik kaum entgegenstellen. Mit der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft steht die ÖVP auf Kriegsfuß, den Leuten will sie erklären, was Normalität und Leitkultur seien. Gute Nacht, liberale Demokratie.

Oder: Die ÖVP hat in den vergangenen Jahren ihren (überwiegend) pro-europäischen Kurs so stark aufgegeben, dass das ein Anlass für Othmar Karas war, hinzuschmeißen. Unter Kurz stand EU eher nur für Scheitern in Asylfragen, unter Karl Nehammer für Bürokratie. Abgesehen davon forderte er eine „Refokussierung“ der Union auf Wirtschaftsthemen. Das ist nicht so weit entfernt von freiheitlichen Vorstellungen.

In der Sicherheitspolitik bemühte sich die ÖVP, Solidarität mit der Ukraine zu betonen und eine Beteiligung Österreichs an „Sky Shield“ durchzusetzen. Könnte sie hier jedoch hart bleiben gegenüber Kickl?

Die Frage ist nicht so sehr, ob sie das könnte (Natürlich!), sondern was sie damit riskieren würde, weil sie sich in den vergangenen Jahren nicht um Positionen in der Mitte bemüht hat; und weil sie öffentliche Auseinandersetzungen verabsäumt hat, die zur Bewusstseinsbildung in einer breiteren Öffentlichkeit (zum Beispiel eben in Bezug auf „Sky Shield“) bzw. zur Pflege der eigenen Wählerschaft notwendig gewesen wären.

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