Verloren im Nichts

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ANALYSE. Christian Stocker wird am Wochenende zum ÖVP-Chef gewählt. Was die Partei von ihm erwartet hat, hat er bereits geliefert. Längerfristig braucht sie jedoch viel mehr.

Linke und rechte Parteien haben klare Vorstellungen. Stichwort Umverteilung durch Vermögenssteuern auf der einen Seite etwa oder „Remigration“ auf der anderen. Was aber ist mit denen in der Mitte? Ursprünglich war als Titel dieses Textes vorgesehen: „Verloren in der Mitte“. Diese Mitte steht jedoch zunehmend für nichts.

Die ÖVP behauptet trotzdem gerne, die Mitte zu sein. Sie tut es, um Menschen anzusprechen, die weder Linke noch Rechte sein wollen. Das sind viele. Inhaltlich heißt es jedoch weniger denn je. Und das ist die Krise der Volkspartei.

Die alte, staatstragende Mitte, deren zentrale Leitmotive „Stabilität“ und „Normalität“ waren, existiere nicht mehr, hat das Meinungsforschungsinstitut „Integral“ im Rahmen einer Sinus-Milieu-Studie festgestellt: „Abgelöst wird sie durch ein Nostalgisch-Bürgerliches Milieu, das die vermeintliche ‚Ordnung der Vergangenheit‘ wieder herstellen möchte und zum Sprachrohr des überforderten und unzufriedenen Teils unserer Gesellschaft wird. Es bildet sich Reaktanz gegen die Eliten heraus und zahlreiche Fakten werden angezweifelt. Weiters ist ein neues Milieu entstanden, das sich radikal für die nachhaltige Zukunft Österreichs einsetzt.“ Dabei handle es sich um „progressive Realisten“.

Das ist wie gesagt die Krise der ÖVP: Ehe Josef Pröll im Jahr 2008 Obmann wurde, hatte er eine Perspektivengruppe geleitet, bei der es darum ging, die Partei unter den gegebenen Umständen neu zu positionieren. Sie war jedoch nicht bereit dazu. Beate Meinl-Reisinger hatte in der Gruppe mitgearbeitet. Insofern war das auch für sie ein Frustrationserlebnis, ist es daher kein Zufall, dass sie später zu „progressiven Realisten“ namens Neos ging.

Die ÖVP orientierte sich schließlich an dem Teil der ehemals staatstragenden Mitte, der laut „Integral“-Institut aus Überforderten und Unzufriedenen besteht. Also klassischen Blau-Wählen. Unter Sebastian Kurz ging das insofern auf, als er es verstand, viele dieser Leute der FPÖ abzuwerben.

Fast wäre die Partei nun, im Jahr 2025, als große Verliererin Junior-Regierungspartnerin der FPÖ geworden. Karl Nehammer war dabei gescheitert, eine schwarz-rot-pinke Koalition zu bilden. Warum? Unter anderem weil er keine Idee von Mitte hatte. Und weil es in seinen Reihen Funktionäre gab, die glaubten, dass man sich mit Herbert Kickl doch irgendwie arrangieren könnte.

An diesem Punkt trat Christian Stocker auf. Der bisherige Generalsekretär sollte „Ruhe in die Partei“ bringen und sie zumindest bis zu einem Parteitag führen, hieß es zunächst. Das mit der Ruhe ist ihm gelungen. Aber sonst?

Da ist schon noch Relevantes: Bei den Verhandlungen mit Kickl haben er und seine Funktionäre erkannt, dass sich Kickl nicht zähmen lässt. Dass er am rechten Rand bleibt und nicht bereit ist, zur Mitte zu rücken, um es in Abwandlung von Worten zu formulieren, die Stocker gewählt hat.

Diese Verhandlungen und die Veröffentlichung eines Protokolls mit Kickls Vorstellungen waren wirklich wichtig für Österreich. Damit ist ein Sickerprozess einhergegangen: Mehr Menschen haben erst erkannt, worauf es unter einem Kanzler Kickl hinauslaufen würde.

Umgekehrt hat die ÖVP damit aber nur gezeigt, was Mitte aus ihrer Sicht nicht ist. Nicht aber, was es ist. Dieses Problem bleibt ihr, und Stocker hat bisher keine Hinweise darauf geliefert, was er sich darunter vorstellt.

Es ist ja auch schwierig: In fünf Bundesländern koaliert seine Partei mit der FPÖ und macht es sich damit selbst unmöglich, eine eigenständige Politik zu betreiben. Zum Bildungsbereich fällt ihr allenfalls Kopftuchverbot ein.

Auf Bundesebene steht Integrationsministerin Claudia Plakolm für die Fortsetzung des Kurses ihrer Vorgängerin Susanne Raab. Zum Familiennachzug kommt ein „Stopp“ unter Verweis auf einen rechtlich nicht existierenden „Notstand“. Dabei wüsste man doch, wie’s geht: Durch die Einführung von DNA-Tests etwa sind die Zahlen vor einem Jahr eingebrochen, kommen nur noch wenige Menschen. Aber nein, es müssen „null“ sein, damit die FPÖ nicht mehr meckern kann.

Mitte sei Leistung, heißt es allenfalls, das müsse sich wieder lohnen. Ja, ja: Wie hier berichtet, bleibt von ÖVP-Finanzministern der vergangenen Jahre – neben einem explodierenden Defizit – eine der höchsten Abgabenquoten der Geschichte. Wenn sich hier jemand widerspricht, dann ist es also die Volkspartei.

Mitte wäre Europa. Wäre: Es reicht nicht, der Anti-EU-Politik der FPÖ eine Absage zu erteilen. Das ist eine Pflichtübung. Es braucht auch mehr als das Mittragen von Beschlüssen zu gemeinsamer Sicherheit und Verteidigung. Gefragt wäre endlich einmal eine österreichische Vorstellung davon, wo die Reise hingehen soll. Sie fehlt komplett.

Christian Stocker hat viel zu tun. Bildlich gesprochen, sitzt er vor einem dicken Buch, auf dem „Mitte“ steht, dessen Seiten aber leer sind.

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