ANALYSE. Der Bundespräsident wartet seelenruhig auf die Regierungsbildung und übersieht, wie mächtig Kickl bereits ist.
Vor wenigen Tagen war wieder einmal etwas zu lesen von Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Dem deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte er ein Interview gegeben und gestanden, dass er sich beim russischen Präsidenten Wladimir Putin geirrt habe. Auf die Frage, ob er FPÖ-Chef Herbert Kickl nach der Nationalratswahl im Herbst als Bundeskanzler angeloben würde, ging er nicht weiter ein: „Warum sollte ich alle meine Karten jetzt schon auf den Tisch legen?“
Vor bald eineinhalb Jahren war er noch nicht so zurückhaltend: Gegenüber dem ORF meinte er damals, er werde „eine antieuropäische Partei, eine Partei, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilt, nicht durch meine Maßnahmen noch zu befördern versuchen“. Das war nicht ganz korrekt, weil die FPÖ zwar russlandfreundlich ist, den Angriffskrieg aber verurteilt hat, die Botschaft war jedoch klar: Van der Bellen wird alles tun, damit Freiheitliche nicht in die Regierung kommen. Alles jedenfalls, was in seiner Macht steht. Dass er im Falle des Falles also auf Vertreter anderer Parteien einwirken wird, zusammenzuarbeiten. Das zeigt, wo seine Grenzen liegen. Findet die FPÖ Partner für eine Mehrheit auf parlamentarischer Ebene, hat er de facto verloren.
Herbert Kickl hat sich damals, vor bald eineinhalb Jahren, empört gegeben. In Wirklichkeit hat er sich gefreut, seinen Anhängern vermitteln zu können, dass er von seinem Lieblingsgegner Van der Bellen ausgegrenzt werde. Das dürfte wiederum einer der Gründe sein, dass der Bundespräsident extrem zurückhaltend geworden ist; dass er sich zur Innenpolitik lieber nicht mehr äußert – getrieben von der Sorge, Kickl letzten Endes zu helfen.
Im Grunde genommen hilft man Kickl immer: Kritik an der Regierung nützt ihm. Und Kritik an ihm sowieso, weil er es versteht, diese so umzudeuten, dass zumindest seine Anhänger nur noch stärker auf seiner Seite stehen. Schlimmer: Man hilft ihm auch, wenn man nichts mehr sagt.
Damit lässt man zu, dass es Freiheitliche mehr und mehr schaffen, Grenzen des vermeintlich Sagbaren zu verschieben. Beispiel: „Remigration“ ist zu einem Begriff geworden, der fast schon normal wirkt. EU-Wahl-Spitzenkandidat Harald Vilimsky fordert sogar einen EU-Kommissar für „Remigration“ und (fast) niemand stößt sich daran. Vilimsky hat auch angefangen, mit einem Öxit zu spielen. Er weiß, dass ihm das im Unterschied zu seinem Parteikollegen Norbert Hofer vor acht Jahren nicht mehr schaden kann.
„Dafür gibt es keine Mehrheit“, wäre keine vernünftige Antwort darauf. Schaut man sich Eurobarometer-Detaildaten an, fällt auf, dass bei den Menschen, die sich der Arbeiterklasse zuordnen, eine relative Mehrheit der EU distanziert bis ablehnend gegenübersteht. Schaut man sich im Übrigen an, wie die Europapolitik der anderen Parteien ausschaut, stellt man fest, dass das leidenschaftlich pro-europäische Lager überschaubar geworden ist. Es besteht aus Neos und vielleicht Grünen.
Van der Bellen kann hoffen, dass nach der Nationalratswahl bei Türkisen, Sozialdemokraten, Grünen und Neos eine Bereitschaft vorhanden ist, eine Regierung ohne FPÖ zu bilden. Darauf verlassen kann er sich jedoch nicht. Wichtiger: Am Ende des Tages ist entscheidend, welche Politik gemacht wird.
Und diesbezüglich sind die Freiheitlichen schon heute bestimmend: Dass die ÖVP etwa auf eine Senkung der Strafmündigkeit auf zwölf Jahre drängt; dass sie eine „Leitkultur“ propagiert; oder dass sie eine Refokussierung der EU auf Wirtschaftsfragen fordert, das ist alles der Versuch, ein und denselben Wählern gerecht zu werden. Wichtiger: Diese Inhalte laufen, obwohl Kickl und Co. in Opposition sind. De facto regieren sie.