ANALYSE. Die österreichische Politik steht wieder im Zeichen von Asyl und Migration. Türkise und blaue Darstellungen sind einmal mehr bestimmend. Als wären sie alternativlos.
Die ÖVP hat ein Führungsproblem. In der Frage, ob die Europäische Menschenrechtskonvention überarbeitet werden sollte, gehen die Meinungen auseinander. Einerseits. Andererseits kann Bundeskanzler Karl Nehammer, der sich im Unterschied etwa zu Klubobmann August Wöginger (dafür) und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (dagegen) nicht positioniert, zufrieden sein: Aufgrund der Entwicklungen im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mag es befremdlich wirken, womit man sich in der österreichischen Politik beschäftigt; für Nehammers Volkspartei ist es jedoch befreiend, dass nicht mehr über Korruptionsaffären, sondern über ihr Kernthema Asyl und Migration geredet wird.
Wobei das „Wie“ entscheidend ist: Wöginger, der die Überarbeitung des Menschenkonvention angeregt hat, kann – oder besser: mag – bis heute nicht sagen, was er ändern würde. Das lässt den Schluss zu, dass ihm die Sache selbst vollkommen egal ist. Wichtig ist für ihn, Grundsätzliches zur Disposition zu stellen: Asyl. Das ist eine Botschaft an hunderttausende Wählerinnen und Wähler.
Die ÖVP hat damit gut ein Jahr nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz wieder einmal eine Marke gesetzt. Freiheitliche werden automatisch mit davon profitieren. Türkise haben sich darum gekümmert, dass das Thema, das in dieser Art und Weise auch ihres ist, wieder auf der Agenda steht. Das ist nicht zu ihrem Nachteil. Im Gegenteil.
Hier soll es aber eher um die Gegenposition gehen. Sie ist kaum wahrnehmbar. Besonders für die Sozialdemokratie ist das verhängnisvoll: Sie überlässt wieder einmal ein Feld anderen. Sie, die bald wieder das Kanzleramt führen möchte, hat sich schon nicht an die Spitze einer Anti-Korruptionsbewegung gesetzt; sie führt auch keine Initiative für einen entparteipolitisierten ORF, mit der ein wichtiges demokratiepolitisches Signal für ein neues Österreich einhergehen könnte; und sie schafft es eben weiterhin nicht, einen Standpunkt zu Asyl und Migration zu vertreten, der zumindest einem Teil der gesellschaftlichen Mitte erschließt: „Ok, das ist besser als das, was Türkise und Blaue erzählen.“
SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner wird immer öfter mit ihrer Aussage vom ORF-Sommergespräch konfrontiert, dass sie „keine Flüchtlingskrise sehe“. Gerade wenn sie der Meinung sein sollte, dass Österreich genau genommen zum Beispiel eine Herausforderung mit Menschen aus der Ukraine hat (zwei Drittel aller, die sich in Grundversorgung befinden); und mit Leuten, die visumfrei über Serbien nach Europa kommen (von indischen Staatsangehörigen, die das tun, stammen gerade die meisten Asylanträge), dann sollte sie sich nicht einfach nur darauf beschränken, zu sagen, es gebe keine Krise.
Politisch relevant ist nicht, was ist, sondern was wahrgenommen wird. Darüber kann man sich ärgern, man kann es ungerecht finden oder was auch immer. Es ist so. ÖVP, aber auch FPÖ, haben es geschafft, dafür zu sorgen, dass sehr viele ÖsterreicherInnen geradezu Verhältnisse wie 2015 sehen. Wenn die SPÖ wirklich stärkste Partei werden will, dann muss sie dem etwas entgegensetzen: Ein Programm zu Bewältigung der Herausforderungen, die sie sieht.
Vielleicht ist es naiv, zu glauben, dass das doch nicht so schwer sein kann: Naheliegend wäre nicht eine Einschränkung des Asylrechts, wie es von Wöginger unausgesprochen in den Raum gestellt wird, sondern eine konsequente Anwendung des Asylrechts. Wobei die zuständigen Behörden ohnehin gut unterwegs sein dürften. Sie sorgen dafür, dass es entgegen der Behauptung von Christopher Drexler kein „Asyl nach Wunsch“ gibt.
Man müsste auch nicht unwidersprochen nur auf die EU schimpfen lassen, sondern könnte zum Beispiel darauf hinweisen, wie unsolidarisch Ungarn ist, das de facto kein Asyl gewährt, oder Serbien, das tausende Migranten einfach visumfrei einfliegen lässt, um sie weiter zu winken. Das wären schon ein paar entscheidende Schritte, die weder links noch rechts, sondern viel eher pragmatisch erscheinen. Zumal es auf dem See- und Landweg laut UNCR-Dashboard im Unterschied zu 2015 noch immer keine sichtbare Zunahme der Fluchtbewegungen über den Mittelmeerraum gibt, sich ein solches Problem also gar nicht stellt.