ANALYSE. Für die ÖVP von Karl Nehammer wird es schwieriger, ihren Machtanspruch aufrechtzuerhalten.
Das Rätsel, warum die ÖVP unbedingt haben möchte, dass Finanzminister Magnus Brunner EU-Kommissar wird, konnte bisher nicht gelöst werden. Es bezieht sich darauf, dass Brunner die Landesliste Vorarlberg für die Nationalratswahl am 29. September anführt und dass er auf der Bundesliste auf Platz drei hinter Kanzler Karl Nehammer und Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm steht. Das ist jetzt erst festgelegt worden. Ein führender Listenvertreter wird möglicherweise also noch vor dem Urnengang aus dem Rennen genommen. Und er wird im schlimmsten Fall zwar wählbar bleiben, das Mandat aber nicht annehmen. Falls der Wunsch der ÖVP aufgeht, dass er nach Brüssel wechseln darf.
Respekt vor dem Souverän, Umgang mit Macht: Hier hapert es. Oder es läuft nicht mehr so einfach wie es über Jahrzehnte hinweg gelaufen ist. Er sei von der ÖVP bedrängt worden, Ermittlungen und Hausdurchsuchungen „abzudrehen“, hatte Justizsektionschef Christian Pilnacek vor seinem Tod behauptet. Eine Untersuchungskommission ist nun zum Schluss gekommen, dass es Versuche der Einflussnahme auf die Justiz vor allem seitens der ÖVP gegeben hat, es aber auch entsprechende Hinweise in Bezug auf andere Parteien gebe, die länger an der Macht seien oder gewesen seien (der ausführliche Bericht der Kommission, dem Genaueres zu entnehmen sein sollte, soll in den nächsten Tagen veröffentlicht werden).
Ein erfreulicher Nebeneffekt davon ist, dass es nach der Nationalratswahl schwierig werden wird, die Kontrolle über das Justizministerium zu übernehmen. Für die ÖVP genauso wie für jede andere Partei. Der Druck, einen parteienfreien Ressortchef, eine parteifreie Ressortchefin zu bestimmen, wird unter diesen Umständen jedenfalls sehr groß sein.
Türkise trifft das doppelt: Karl Nehammer, Freundinnen und Freunde wollen führend bleiben und tun dabei so, als wäre dies eine staatspolitische Notwendigkeit. In Wirklichkeit zeigt sich jedoch, dass sie nach 37 Jahren dringend in Opposition gehören würden. Allein, damit sie nicht mehr so mir nichts, dir nichts in Versuchung kommen, Macht zu missbrauchen.
Zweitens: Zu gerne würde die ÖVP aufgrund all der türkisen Affären in der Justiz durchgreifen und die Wirtschafts- und Korruptionsstaatanwaltschaft (WKStA) schwächen. So wenig wie der nächste Minister, die nächste Ministerin aus ihren Reihen kommen wird, so wenig wird ihr das jetzt aber noch möglich sein. Sie steht, zugespitzt formuliert, unter Generalverdacht und damit auch unter verstärkter Beobachtung.
Zusammengefasst rächt es sich für sie wieder einmal, dass Sebastian Kurz einen versprochenen „neuen Stil“ nicht praktiziert hat. Und dass Nehammer als sein Nachfolger auch nicht ernstgemacht hat damit. Er, der bei der EU-Wahl Zuversicht gewonnen haben will, die ÖVP bei der Nationalratswahl auf Platz eins zu führen, steht gemeinsam mit dieser als Vertreter einer alten Politik da. Also schwer in der Defensive.