ANALYSE. Isoliert betrachtet ist die schlichte Forderung der Wiener SPÖ, Schulnoten und die Matura abzuschaffen, zum Scheitern verurteilt – und zum Schaden von Andreas Babler.
„Noten sagen nichts darüber aus, was ein Schüler weiß“, berichtete die „Kleine Zeitung“ vor vier Jahren unter Verweis auf eine Studie, die der Bildungswissenschaftler Ferdinand Eder erstellt hatte. Am ehesten zeige eine Note, wie man im Vergleich zu den jeweiligen Klassenkolleginnen und -kollegen dastehe. Maßgebend seien vor allem der Schulstandort, die Lehrperson und das Niveau der Klasse. Ergebnis: „Leistungen, die in der einen Klasse mit einem ‚Nichtgenügend‘ verbunden sind, reichen in einer anderen für ein ‚Sehr gut‘. Und vice versa!“
Berücksichtigt man im Übrigen, dass Noten „trotzdem“ darüber entscheiden, ob ein Kind ins Gymnasium kommt, eine Klasse wiederholen oder eine Reifeprüfung bestanden hat, könnte man geneigt sein, der Wiener SPÖ zuzustimmen, die folgendes verlangt: Weg mit den Noten und der Matura.
Ob es jedoch vernünftig ist? Es kommt darauf an, was man damit meint: Wenn Ziel von Bildung eine möglichst aufgeklärte, selbstbestimmte Persönlichkeit ist, die strukturiert denken kann, wird man unter Garantie andere Mittel und Wege finden als jene, die zum bestehenden Schulsystem gehören; dann wird man ohne Noten und Matura vielleicht sogar zu viel besseren Ergebnissen kommen.
Das Problem ist jedoch ein sehr vielschichtig politisches. Erstens: Der Vorstoß überrascht insofern, als sozialdemokratische Bildungspolitik über die Jahre lückenhaft geworden ist. Einst stand die Partei für die Gesamtschule. Auf diese hat sie jedoch selbst vergessen. Eine Zeit lang haben sich eher „nur“ ÖVP-Vertreter im Westen (auf Druck der Grünen) auf eine Gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen zubewegt. Die SPÖ hat das – zum Beispiel in Tirol – nicht einmal aufgegriffen, ja sie verstärkt das dort jetzt, wo sie unter Führung von Georg Dornauer „Landeshauptmann-Stellvertreterpartei“ ist, um keinen Deut. Der Punkt ist: Warum Noten und Matura abschaffen, wenn so vieles andere vernachlässigt wird?
Zweitens: Dass ÖVP und FPÖ dagegen wettern, ist das eine. Dass dadurch eine gesellschaftliche Bruchlinie zum Ausdruck kommt, das andere: Das Ganze erinnert an das Muster, das der Sprachforscher George Lakoff für politische Konflikte entworfen hat: Auf der einen Seite gibt es die fürsorglichen Eltern, auf der anderen Seite den strengen Vater. Die fürsorglichen Eltern reden mit dem Kind, bestärken es in seiner Entwicklung, der strenge Vater gibt Noten und erteilt Strafen. Die Eltern sind eher links, der Vater ist eher rechts.
These: Die fürsorglichen Eltern sind eher in urbanen Räumen wie Wien zu Hause (und auch dort nur zum Teil). Österreich insgesamt tickt aber noch immer eher im Sinne des strengen Vaters. Schule ist für eine Mehrheit nur mit Noten und Matura denkbar. Auch, weil diese Mehrheit nichts anderes kennt, weil es für sie unmöglich ist, sich etwas anderes vorzustellen. „Keine Noten“ ist für sie gleichgesetzt mit einer Art Gleichgültigkeit; bzw. damit, nichts mehr zu lernen, weil es ja kein Sehr gut und auch kein Nicht genügend gibt und das alles daher keinen Sinn mehr macht.
Wer das aufbrechen und verändern will, braucht einen längerfristigen Plan mit einer Strategie und einer Erzählung. Mit einem Bild von einer Gesellschaft, das für eine Masse erstrebenswert wirkt. Aber davon ist die Wiener SPÖ weit entfernt. Insofern ist das, was sie hier macht, riskant. Vor allem auch aus Sicht von Andreas Babler: Es ist kurz- und mittelfristig ungefähr so schädlich für ihn wie sein Ruf nach Tempo 100 auf der Autobahn. Da hat er feststellen müssen, dass er so nicht weit kommt beim Klimaschutz, sondern Gefahr läuft, eine Wählermehrheit gegen sich zu mobilisieren.