ANALYSE. Wie Grüne weiß auch Neos um seine Bedeutung nach der kommenden Nationalratswahl. Im Unterschied zu Nehammer und Kickl müssen sie nicht bluffen, sondern können wirklich hoch pokern.
Man sollte sich nicht täuschen lassen: Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) tut so, als könne er es sich leisten, eine Person nach der anderen für eine Regierungszusammenarbeit auszuschließen. FPÖ-Chef Herbert Kickl vermittelt den Eindruck, im Falle einer relativen Mehrheit absolut herrschen zu können. Es wirkt, als gehe Nehammer davon aus, den Stimmenanteil zu halten, den Sebastian Kurz der Volkspartei vor fünf Jahren beschert hat (37,5 Prozent), und als glaube Kickl, die Freiheitlichen auf mindestens 92 von 183 Nationalratsmandaten führen zu können beim Urnengang am 29. September.
Aber das ist natürlich alles ein Bluff. Beiden geht es darum, sich größer zu machen als sie sind. Kickl ist das wichtig, um seinen Anhängen zu signalisieren, dass eine Stimme für die FPÖ keine verlorene Stimme ist. Nehammer versucht umgekehrt, zu vermitteln, dass eine Stimme für die ÖVP besser ist als eine solche für die FPÖ, weil diese mit Kickl verloren sei. Zusätzlich distanziert er sich gezielt von Sozialdemokraten und Grünen, um Mitte-Rechts-Wählern zu zeigen, dass er eh kein Linker sei, ja dass nicht noch mehr Klimaschutz notwendig sei.
In Wirklichkeit pokern beide hoch: Was macht Kickl zum Beispiel mit einem Regierungsbildungsauftrag, wenn er nicht nur bei Türkisen, sondern auch bei Sozialdemokraten, Grünen und Neos anklopfen muss? Wie stellt sich Nehammer das vor, wenn seine Volkspartei wie bei der Europawahl um die 25 Prozent holt? Sozialdemokraten werden dann kaum nach seiner Pfeife tanzen, sich weder inhaltlich wie personell ganz nach ihm ausrichten. Vor allem aber: Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sich eine „Große Koalition“ ausgeht. Dann muss er auch bei den Grünen vorstellig werden. Sie jedoch werden ihm mitteilen, dass Leonore Gewessler noch immer da sei und jedenfalls weiterhin eine wichtige Rolle spielen müsse.
Werner Kogler und Co können wirklich hoch pokern: Nehammer wird nicht so einfach sagen können „Selber schuld, hole ich halt Neos ins Boot“. Auch bei Neos ist man schließlich selbstbewusst, hat gerade erklärt, dass man allenfalls das Finanzministerium führen wolle.
Aus türkiser Sicht wäre das eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Nicht nur, dass man sich mit den Sozialdemokraten zusammentun müsste; was von Sebastian Kurz wirkungsvoll als das Letzte geframt worden ist, als etwas, das für „Stillstand“ stehe. Man müsste auch noch abwägen, was einem weniger übel erscheinen würde: eine grüne Klimaschutzministerin Gewessler oder ein pinker Finanzminister, eine pinke Finanzministerin.
Inhaltlich müsste Neos den Vorzug erhalten. Mit Beate Meinl-Reisinger, Freundinnen und Freunden könnte man rote Erbschaftssteuerideen viel eher abdrehen als mit den Grünen. Andererseits könnte man finanzielle Länder- und Gemeindewünsche nicht mehr so mir nichts, dir nichts erfüllen. Wäre Schluss mit der „Koste es, was es wolle“-Politik, solange es um Klientelinteressen geht. In Bezug auf ihre Macht wäre das fast so schmerzlich für die ÖVP wie der Verlust des Kanzleramts.
Selbstverständlich darf man bei alledem nicht übersehen, dass auch Grüne und Pinke nicht zu weit gehen dürfen bei ihren Forderungen. Sonst heißt es am Ende, sie seien schuld daran, dass leider doch eine freiheitliche Regierungsbeteiligung notwendig werde oder gar ein Kanzler Kickl. Umgekehrt aber stehen sie vor einem entscheidenden Bedeutungsgewinn: Sie müssen nicht mehr dankbar sein, für eine Koalition auch nur infrage zu kommen. Eine der beiden wird eher gebraucht werden dafür, sofern die ÖVP auch bei einer blau-türkisen oder türkis-blauen Mehrheit dabei bleibt, dass es keine Zusammenarbeit mit Kickl gibt.