ANALYSE. Aus den Reihen der Volkspartei hat noch kein bedeutender Funktionär so deutlich wie Othmar Karas ausgesprochen, wie sehr sie die Mitte aufgegeben hat. Worauf er hinauswill? Eine Mutmaßung.
Genau genommen müsste die ÖVP Othmar Karas aus der Partei ausschließen. Was er gerade gemacht hat, entspricht § 65 ihres Organisationsstatuts: „Parteischädigendes Verhalten oder gröbliche Verletzung der Parteidisziplin.“ Wobei „oder“ durch ein „und“ ersetzt gehört: In einer „persönlichen Erklärung“ hat er nicht nur angekündigt, bei der EU-Wahl im kommenden Jahr nicht mehr kandidieren zu wollen. Er hat mit der ÖVP abgerechnet. Er hat das ausgesprochen, was offensichtlich ist; er ist zwar nicht der erste, der das tut, aber der Prominenteste und (sozusagen) der größte Schwarze von allen.
Karas ortet eine Tendenz, sich bei den Rändern anzubiedern und diese zu kopieren; gemeint ist natürlich die FPÖ. Damit werde die Mitte aufgegeben. Ja, alles in allem sei die ÖVP nicht mehr die Partei, die Europa mitgestaltet, wie er nach Verweis auf das Schengen-Veto oder Scheindebatten wie jene über die Verankerung von Bargeld in der Verfassung bemerkt; sie sei „nicht mehr die Kraft der Mitte, die sie sein sollte“.
Insofern muss man das mit dem eingangs getätigten Verweis auf die Statuten relativieren: Parteischädigend im Sinne des Grundsatzprogramms ist viel eher die Ausrichtung, die Sebastian Kurz eingeleitet hat und die Karl Nehammer nun fortsetzt. Die ÖVP tut so, als wäre sie die Kraft der Mitte, die sich von den Rändern abgrenzt. Karas bestätigt jedoch nicht zufällig unter Verwendung der Begriffe „Mitte“ und „Ränder“, dass sie genau das eben nicht ist bzw. tut.
Nicht nur eine weit rechts stehende FPÖ und eine nach links ziehende SPÖ machen einen großen Raum insbesondre für eine bürgerliche Partei auf, die ÖVP trägt absuderweise selbst dazu bei. Daher mag es überraschen, dass Karas keine Verselbständigung wagt und mit einer Liste OK bei der EU-Wahl 2024 antritt; das schließt er aus.
Da geht’s ihm offenbar so wie nicht wenigen Katholiken, die mit der Kirche hadern und trotzdem nicht austreten. Die hoffen, dass sie sich schon irgendwann wieder (wie in Zeiten des 2. Vatikanischen Konzils) in eine Richtung entwickelt, die ihren Vorstellungen entspricht.
Karas mag die ÖVP nicht verlassen. Das ist seine Heimat. Wie er in den vergangenen Monaten offengelassen hat, mit einer eigenen Liste bei der EU-Wahl zu kandidieren, tut er Vergleichbares nun auch in Bezug auf die Nationalratswahl spätestens im Herbst 2024 und eine Bundespräsidentenwahl, die voraussichtlich im Herbst 2026 folgen wird.
Doch welche Gründe sollten dann so schwerwiegend sein, gegen sie anzutreten, wenn sie jetzt nicht ausreichen? Die ÖVP müsste noch weiter abdriften, mit der Herbert Kickl-FPÖ koalieren, Sebastian Kurz zurückholen und dergleichen. Dann würde es sich für Karas vielleicht ausgehen.
Eher schient der christlichsoziale 65-Jährige auf eine Katharsis zu setzen: Dass es nach der kommenden Nationalratswahl zu einer Rückbesinnung kommt in der ÖVP. Ganz ausgeschlossen ist das nicht: Es gibt zum Beispiel Leute wie den Tiroler Landeshauptmann Anton Mattle, die für eine solche stehen. So unwahrscheinlich es wirken mag aus heutiger Sicht: Sollte es zu einer solchen Rückbesinnung kommen, wäre ein ÖVP-Präsidentschaftskandidat Karas naheliegend. Kaum einer verkörpert eine bürgerliche Mitte so glaubwürdig wie er.