ANALYSE. Vor eineinhalb Monaten wirkte ein ÖVP-Triumph fix. Mittlerweile überraschen jedoch Freiheitliche und viel mehr noch Grüne und Neos.
Aus nachvollziehbaren Gründen ruft ÖVP-Chef Sebastian Kurz seine Anhänger auf, sich nicht zurückzulehnen, sondern zu laufen, zu laufen und noch einmal zu laufen. Knapp 40 Prozent oder mehr zu holen, wie es Umfragen möglich erscheinen lassen, wird nämlich schwieriger und schwieriger. Problem Nr. 1 ist das der Mobilisierung: Wenn niemand daran zweifelt, dass Kurz gewinnt und wieder Kanzler wird, wie soll man die Massen dann dazu motivieren, wirklich wählen zu gehen? 2017 war das noch viel einfacher; vor zwei Jahren ging es darum, einen sozialdemokratischen Kanzler abzulösen. Heute gibt es jedoch nicht einmal einen Mitbewerber um das Amt.
Die ÖVP versucht dieses Problem durch die Warnung vor Rot-Blau zu umgehen. Praktisch umgelegt müsste das jedoch bedeuten, dass SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner Regierungschefin werden können müsste. Allein: Die Sozialdemokratie liegt so schlecht, dass sie sich selbst kaum traut, einen Anspruch auf das Kanzleramt zu erheben. Zumal hinzukommt, dass sie für Rot-Blau aufhören müsste, eine Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen auszuschließen. Und zwar vor dem Wahltag, damit das im Sinne der ÖVP voll wirken könnte.
Viel mehr noch zu schaffen machen der Neuen Volkspartei aber zwei andere Dinge: Zum einen steht mit dem Klimaschutz plötzlich ein Thema mit im Raum, das nicht ihres ist; er widerspricht ihr ungefähr so wie „Mehr Privat, weniger Staat“ der SPÖ. Zum anderen entwickeln sich drei Parteien ganz besonders aus ihrer Sicht bedrohlich gut.
Eine Voraussetzung für einen großen ÖVP-Triumph ist ein Absturz der Freiheitlichen. Schon bei der EU-Wahl haben sie jedoch überrascht. Und in den jüngsten Umfragen, die auf neuwal.com aufgelistet sind, halten sie 18 bis 20 Prozent. Was Verlusten, aber nicht unbedingt einem Totalabsturz entsprechen würde; vor der Ibiza-Affäre kamen sie auf 23 bei 25 Prozent. Ihr Wahlergebnis im September ist nicht abzusehen; mit Norbert Hofer und Herbert Kickl, die blaue Kernwähler zumindest ebenso stark ansprechen wie es Heinz-Christian Strache einst geschafft hat, ist jedoch sehr viel möglich.
Die Grünen sind wieder da. Die Wählerbewegungen zwischen ihnen und der ÖVP sind in der Vergangenheit nicht bedeutungslos gewesen. 2017 brachten sie Kurz und Co. immerhin rund zwei Prozentpunkte. Sie könnten nun wieder weg sein. Und überhaupt: Die Grünen sind – neben den Neos – eher ökosozial im Sinne von Josef Riegler und Franz Fischler als es die Neue Volkspartei ist. Sprich, Leute die wie die beiden fossile Energieträger stärker besteuern wollen, könnten zusätzlich zu den Grünen – oder den Neos – abwandern. In Summe mögen das nicht viele sein, letzten Endes kann aber jeder Zehntelprozentpunkt entscheidend sein.
Bleibt das Phänomen Neos: Von der Papierform her müssten sie sich in Luft auflösen, sind sie ursprünglich doch vor allem nur dank ehemaliger ÖVP- und -Grünen-Wähler ins Parlament gekommen und haben sich dort auch halten können. Umso bemerkenswerter, dass sie gerade acht bis zehn Prozent erreichen, obwohl ÖVP und Grüne heute besser liegen als damals: Das ist ein Hinweis darauf, wieviel in Bewegung ist – und eine Überraschung am 29. September sehr wahrscheinlich geworden ist.