ANALYSE. Die Freiheitlichen werden unterschätzt. Dabei haben sie gute Chancen, in absehbarer Zeit wieder vorne mitzumischen in der Wähler:innengunst.
Eine Masse spürt es: Zumindest wirtschaftlich könnte Schlimmeres zukommen auf Österreich. Corona war nichts dagegen. Wie hier ausgeführt, blickten seit März 2020 durchwegs viel mehr Menschen zuversichtlich in die Zukunft als zu Beginn des Ukraine-Krieges. 62 Prozent gingen zuletzt davon aus, dass die Lage in einem Jahr schlechter sein wird.
Die Erwartungen dürften sich aus Wahrnehmung und schwer greifbaren Gefühlen zusammensetzen. Die Preissteigerungen laufen, den einen tun sie (bereits) weh, Glücklicheren tun sie es (noch) nicht. Wobei: Wer bei hoher Inflation und null Zinsen dummerweise viel Geld auf dem Sparbuch hat, hat auch ein Problem; es handelt sich halt allenfalls nur um ein Luxusproblem.
Dazu kommen angstmachende Vorstellungen: Was ist, wenn das Erdgas ausgeht? Die Rede ist von einer erheblichen Rezession, Massenarbeitslosigkeit, irgendwann auch ungeheizten Wohnungen etc. Je nachdem, wem man zuhört bzw. was man liest. Regierungspolitiker sollen schlaflose Nächte haben. Umso mehr muss man sich darüber wundern, dass sie sich nach außen hin so nichts anmerken lassen.
Vor allem in Verbindung damit: Verstärkt durch Botschaften, wie „Koste es, was es wolle“, und diverse Erfahrungen in der Coronakrise, gibt es eine verbreitete Erwartungshaltung, wonach der Staat jedes Problem lösen kann. Prinzip Vollkasko. Spätestens das hätte Leute wie Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) dazu bringen müssen, kommunikativ gewissermaßen in Vorleistung zu treten. Szenarien zu skizzieren. Zu erklären, welchen Plan sie wofür haben. Wo ihre Grenzen sind. Was mögliche Konsequenzen für Einzelne sind. Etc.
Es wäre in ihrem Eigen-, aber auch im Allgemeininteresse gewesen: Bürgerinnen und Bürger hätten einen realistischeren Blick bekommen. Das hätte durchaus etwas Beruhigendes haben können. Auf der anderen Seite wäre das Potenzial für politische Verwerfungen reduziert worden.
Mit dem Multikommunikationsversagen geht nämlich dies einher: Nehammer, Gewessler und Co. riskieren, irgendwann einmal für alles verantwortlich gemacht zu werden. Dass sie nicht die gewohnten Standards absichern konnten und so weiter und so fort. Gewessler spürt das ja schon heute: Unternehmervertreter nehmen sie zunehmend in die Kritik, sie vermissen Gasversorgungs- oder besser -rationierungspläne, damit sie irgendeinen Anhaltspunkt haben. Parteipolitik schwingt hier mit, zu den Wortführern gehört ÖVP-Funktionär Harald Mahrer. In der Sache bleibt jedoch ein wahrer Kern übrig.
SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hat daneben einiges riskiert, indem sie schon jetzt auf eine Neuwahl drängt und sich als Kanzlerkandidatin präsentiert: Es kann passieren, dass ihr diese Rolle fast zweieinhalb Jahre bleibt. Das ist verdammt lang, das muss sie erst durchhalten. Zumal sie zunehmend gefordert sein wird, Programmatisches zu liefern, das auf Zu-, aber auch Widerspruch stoßen wird, also nicht nur Stimmen gewinnen, sondern auch verlieren lässt.
Man kann direkt sehen, wie sich Herbert Kickl (FPÖ) bei alledem zurücklehnt und abwartet. Seine Stärke ist etwas demokratiepolitisch Verhängnisvolles: Er „muss“ nur mit dem Unmut der Menschen arbeiten. Er „kann“ diesen befeuern. Die FPÖ ist eine Protestpartei. Und das wird ihr auch noch sehr einfach gemacht: Wie erwähnt sind die Erwartungshaltungen an die Politik enorm; die Politik hat es jedoch verabsäumt, diese gerade jetzt zu korrigieren. Andererseits kann niemand hemmungsloser als Kickl weiterhin den Eindruck vermitteln, alles regeln zu können; staatspolitische Verantwortung ist niemandem so fremd wie ihm.
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