ANALYSE. Wie der freiheitliche Präsidentschaftskandidat wollen SPÖ- und ÖVP-Spitzenpolitiker den Stimmungswandel in der Bevölkerung nicht weit genug wahrhaben.
Versucht man, die politische Agenda nachzuvollziehen, erschrickt man: Österreich befindet sich demnach in einem Ausnahmezustand. Terror, Flüchtlinge und ausländische Arbeitskräfte sorgen für schier unlösbare Probleme. Also müssen zusätzliche Überwachungsmöglichkeiten, niedrigere Asylquoten und ein rot-weiß-rotes Jobsicherungsprogramm her.
Warum dem so ist? Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ), Vize Reinhold Mitterlehner (ÖVP), aber auch andere Regierungsmitglieder, wie Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ), Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) und Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP), lassen sich gewissermaßen von den Freiheitlichen treiben. Diese sind vor dem Hintergrund wirklich existierender Probleme extrem stark geworden; und zwar in einigen Ländern, wie dem Burgenland, Wien, der Steiermark und Oberösterreich, aber auch in Umfragen auf Bundesebene. Also bemühen sich Kern und Co., das zumindest ein Stück weit nachzuvollziehen.
Was jedoch verhängnisvoll werden könnte: Schon der Verlauf der Bundespräsidenten-Wahlen im vergangenen Jahr hätte ihnen eine Warnung sein müssen. Zunächst hob FPÖ-Kandidat Norbert Hofer ohne weiteres Zutun ab. Dann jedoch tat er sich immer schwerer. Grund: In der Bevölkerung kam es zu einem Stimmungswandel. Beispiele: Durfte Hofer im Frühling noch davon ausgehen, mit einem „Öxit“ punkten zu können, so musste er nach dem „Brexit“ davon lassen; zu groß war die Verunsicherung, die dieser ausgelöst hatte, auch hierzulande. Auch gegen die Regierung wettern bzw. sie bei erstbester Gelegenheit zu entlassen, war ab dem Sommer nicht mehr so gerne gehört; also hielt er sich zurück. Mögliche Gründe: Das bundespolitische Flüchtlingschaos hatte sich gelegt, Christian Kern hatte Werner Faymann abgelöst, die Bürger begannen eher wieder zuversichtlich in die Zukunft zu blicken (vgl. Spectra-Wirtschaftsbarometer).
„Die meisten Bundespolitiker unterschätzen hier die Bevölkerung klar.“ (Christoph Hofinger)
Wobei man sich mit dem Flüchtlingsthema noch etwas näher auseinandersetzen sollte: Wie SORA-Chef Christoph Hofinger vor wenigen Tagen in den Vorarlberger Nachrichten feststellte, „unterschätzen hier die meisten Bundespolitiker die Bevölkerung klar“: Sie vermuteten, dass eine Mehrheit ausschließlich negativ eingestellt seien, fundierte Sozialforschung ergebe jedoch ein anderes Bild, so Hofinger.
In Oberösterreicher hatte er das Ende 2016 im Rahmen einer Erhebung festgestellt: Die Mehrheit teilte dort nicht nur mit, dass das Zusammenleben mit den Fremden in ihrem Heimatort funktioniere, sondern auch, dass es nach wie vor „unsere Pflicht“ sei, Flüchtlinge aufzunehmen und menschenwürdig unterzubringen. Ja, man kann es kaum glauben: Das sagen nicht etwa zehn, 20 oder 30 Prozent, sondern 71 Prozent. In Worten: Einundsiebzig Prozent.
Das und der Verlauf der Bundespräsidenten-Wahlen zeigt, dass es ganz offensichtlich einen immer größer werdenden Unterschied gibt zwischen dem politischen „Framing“ und der Wirklichkeit. Hofer hat zwar ein bisschen darauf reagiert, aber nicht genug; sonst hätte er das Rennen gegen Alexander Van der Bellen nicht so klar verloren. Doch SPÖ und ÖVP lassen sich nicht davon beirren, es ihm quasi nachzumachen bzw. ebenfalls in diese Falle zu rennen.