KOMMENTAR VON GERHARD MARSCHALL. Es kann nicht verboten sein, dem Kanzler zu misstrauen.
Und jetzt wird allseits „Staatsräson“ eingemahnt, soll heißen: Alle Parteien müssen sich in der von zwei durchgeknallten Politikern ausgelösten Regierungskrise hinter Sebastian Kurz stellen. Nur bitte ja kein Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler! Denn jetzt gehe es um „Stabilität“! Das mag der zutiefst österreichischen Sehnsucht nach Harmonie entsprechen, ist jedoch eine etwas bequeme Problemlösung und in demokratiepolitischer Hinsicht bedenklich.
Sebastian Kurz hat von 2011 bis 2017 – gut sechs lange Jahre – einer Regierung angehört, die er heute als Inbegriff von Stillstand hinstellt, dessen Teil er also war. Er hat dann – nachzulesen bei Reinhold Mitterlehner – den eigenen Parteichef abmontiert und die rot-schwarze Koalition gesprengt. Er ist anschließend – gegen alle Warnungen – eine Koalition mit der FPÖ eingegangen, die nach nur eineinhalb Jahren kläglich gescheitert ist.
Und, keineswegs zuletzt: Er hat in seiner ersten Stellungnahme nach Ibiza alles andere denn staatsmännisch agiert, sondern gleich einmal eine plumpe Wahlrede gehalten. Er hat bis dato mit keinem Wort Verantwortung für das türkis-blaue Desaster übernommen, sondern versucht sich als einziger Garant für die von ihm und seinen Getreuen unablässig getrommelte „Stabilität“ darzustellen.
Kurz und seine Buberlpartie haben unter dem Titel „Veränderung“ den Systemumbau in ihrem Sinn und die Spaltung der Gesellschaft zum Regierungsmotto erklärt. Jetzt, da sie vor den Trümmern ihres Ego-Trips stehen, fordern sie von allen anderen Solidarität ein – die fortgesetzte Verhöhnung politischer Gegner.
Nein, es ist nicht verantwortungslos, diesem Kanzler nicht zu vertrauen, ihm hochoffiziell das Misstrauen auszusprechen. Das Parlament ist in einer Demokratie der Ort, dies in zivilisierter, durch die Bundesverfassung exakt so vorgesehener Form zu tun.
Peter Filzmaier hat es am „Runden Tisch“ im ORF auf den Punkt gebracht: Die Möglichkeit, einer Regierung oder einzelnen Mitgliedern im Nationalrat das Misstrauen auszusprechen, wurde nicht deswegen in die Verfassung geschrieben, weil die ansonsten zu kurz ausgefallen wäre und es noch ein paar Zeilen gebraucht hätte. Wenn die Verfassung in ihrer „Eleganz und Schönheit“ einen tauglichen Handlungsrahmen für Ausnahmesituationen wie die aktuelle darstelle, wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen sagt, dann gilt das wohl in ihrer Gesamtheit, also auch für das Instrument des Misstrauens.
Ob es aus Sicht der anderen Parteien klug ist, den in der Bevölkerung offenbar nach wie populären Kanzler zu stürzen, ob diesem das letztlich politisch mehr nützt als schadet, ist eine andere Geschichte. Ebenso ob ihm die Regierungsbühne für den längst begonnen Wahlkampf überlassen werden oder entzogen werden soll. Das sind strategisch-wahltaktische Überlegungen, die jedoch ebenfalls legitim und gerade dem Parteipolitiker Kurz nicht fremd sind.
Es geht in der Sondersitzung des Nationalrats am kommenden Montag einzig und alleine um die Bewertung der Arbeit von Sebastian Kurz als Regierungschef. Und dass das Urteil darüber einer jeder Partei überlassen bleibt, sollte selbstverständlich sein. Ihm zu vertrauen oder zu misstrauen ist gleichermaßen zulässig. Unter dem Titel „Staatsräson“ alle zur Einheitsmeinung zu vergattern, ist hingegen Meinungszwang und abzulehnen.
Nein, es würde keine Staatskrise ausbrechen, wenn Sebastian Kurz ab nächster Woche nicht mehr Bundeskanzler sein sollte. Wie umgekehrt alle, die ihm jetzt misstrauen, akzeptieren müssten, sollte er ihm Parlament eine Mehrheit finden.
Zum Autor: Gerhard Marschall (66) ist langjähriger Innenpolitik-Journalist und unter anderem Träger des Kurt-Vorhofer-Preises. 2008 bis 2014 arbeitete er als Pressesprecher für die damalige Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ).