ANALYSE. Bei der Regierungsbildung hat sich die Stimmung zugunsten von ÖVP, SPÖ und Neos gedreht. Das ist dazu angetan, die Koalitionsvariante, die zunächst eher nur als „Zuckerl“ abgetan wurde, zu stärken.
Der erste Anlauf von ÖVP, SPÖ und Neos, eine Regierung zu bilden, war ein Stück weit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Teile der Volkspartei hatten die Absage an eine Zusammenarbeit mit Herbert Kickl (FPÖ) bald nach der Wahl vergessen; eine solche schien ihnen das geringere Übel als ein Bündnis mit Andreas Babler (SPÖ) zu sein. Karl Nehammer (ÖVP) schaffte es nicht, dagegen zu halten, indem er für die 3-Parteien-Koalition zum Beispiel ein attraktives Ziel oder auch nur einen starken Namen präsentiert hätte; er hatte nichts davon. Es ging irgendwie dahin – wohl auch, weil sich Leute wie Michael Ludwig in der Sozialdemokratie zu sicher waren, dass es zu einer Einigung kommen wird und sich daher nicht weiter engagierten. Nicht vergessen auch die abschätzigen Kommentare, die immer wieder von der „Kronen Zeitung“ kamen; etwa, indem sie von einer „Zuckerlkoalition“ schrieb.
Heute ist einiges anders. Vielleicht hat das Land den Schock gebraucht, der mit den vergangenen Wochen einherging. Im Falle maßgeblicher Leute in den Reihen von ÖVP und SPÖ war‘s wohl fix so: Man hat eine Ahnung bekommen, was ein Kanzler Kickl wirklich bedeuten würde. Mit vielem hätten Schwarze leben können, nicht aber damit, dass der 56-Jährige kompromisslos schier die ganze Macht für sich beansprucht und Österreich nach seinen persönlichen Vorstellungen umbauen möchte. Da wäre schlicht kein Platz mehr geblieben für sie. Umgehend bot ihnen Michael Ludwig an, die Verhandlungen mit der SPÖ wieder aufzunehmen.
Die blau-schwarzen Verhandlungen hat dann zunächst eher Kickl scheitern lassen. Das ist ein wichtiger Punkt: ÖVP, SPÖ und Neos müssen jetzt nicht, um ihn zu verhindern, sondern weil er nicht kann. Damit dreht die Stimmung schon ein Stück weit zu ihren Gunsten.
Dazu kommt noch etwas, was in den vergangenen Tagen passiert ist: Es gibt auch ein Schockerlebnis für Europa, das von Donald Trump und JD Vance ausgeht. Sicherheit und Demokratie sind in Gefahr. Erst allmählich ordnen sich die Dinge, wird deutlich, dass Kickl im Sinne von Trump und Vance tickt; was die EU anbelangt genauso, wie die Ukraine oder das, was sie unter Meinungs- und Medienfreiheit verstehen.
Will man das? Es geht um Existenzielles. ÖVP, SPÖ und Neos haben gewissermaßen den Auftrag, dagegen zu halten. Da haben sie wohl 65, 70 Prozent der Österreicher hinter sich. Neos könnten das Außenministerium bekommen, das bedeutender denn je geworden ist. Als unmissverständlich pro-europäische Kraft verkörpern sie im Übrigen genau das, was es jetzt braucht.
In der SPÖ hat sich Pragmatismus durchgesetzt. Klar: Das heißt grundsätzlich wenig. Hier geht es aber nicht nur um die Erkenntnis, dass man sich mit Schwarzen arrangieren muss, um wieder an die Macht zu kommen. Es geht vor allem darum, dass damit auch etwas Sozialpartnerschaftliches einhergeht: Ein Interessensausgleich zwischen unterschiedlichen Gruppen. Also etwas, was in Zeiten multipler Krisen sehr wichtig sein kann.
Die ÖVP wird den Kanzler stellen. Auf die Idee, dass es Christian Stocker werden dürfte, hätte man vor zwei Monaten nicht kommen können. Und nach wie vor ist es schwer, sich den 64-Jährigen in dieser Funktion vorzustellen. Kann er sie ausfüllen? Vielleicht sogar besser als ein 52-Jähriger, der sich profilieren will und (wie Karl Nehammer) immer wieder verzweifelt um eine Linie ringt. Diesbezüglich wirkt Stocker zumindest in sich ruhend. Einfach unspektakulär und damit unter Umständen genau das, was gefragt ist.
Mit SPÖ und Neos an seiner Seite und mit der Aussicht auf einen CDU/CSU-Kanzler Friedrich Merz, zu dem er die Nähe in europäischen Fragen suchen könnte; sowie in Verbindung mit den Bedrohungen, die von den Feinden liberaler Demokratien in Washington, Moskau bzw. bei FPÖ und AfD ausgehen, erscheint es fast sogar zwingend, dass Stocker eine Neuausrichtung der ÖVP zusammenbringen muss, die wiederum eine entsprechende Regierungspolitik mit sich bringt: Von rechts zurück zur Mitte.