ANALYSE. Wofür die Zunächst-Nicht-Wahl von Friedrich Merz zum deutschen Kanzler steht. Vor allem auch in Österreich.
In den vergangenen Jahrzehnten hat es vermeintliche Gewissheiten gegeben. Dass es keinen Krieg mehr in Europa in dem Sinne geben kann, dass ein Land in einem anderen einmarschiert. Dass Demokratie und Rechtsstaat ungefährdet sind. Und dass die europäische Integration zwar ein ewiges Ringen, aber ein unumkehrbarer Prozess ist, beispielsweise. Das alles gilt nicht mehr.
Zum einen hat es mit einem Erstarken autoritärer Kräfte zu tun, zum anderen mit der Implosion der Mitte. Um sie geht es hier.
Dass es CDU-Chef Friedrich Merz im ersten Wahlgang gerade nicht geschafft hat, die nötige Bundestagsmehrheit fürs Kanzleramt zu erhalten, sagt viel aus über den Zustand (zum Teil offenbar ehemals) staatstragender Kräfte wie eben CDU/CSU und ihrer Koalitionspartnerin SPD.
Schon in der Vergangenheit sind Kanzlerkandidaten immer wieder von eigenen Leuten nicht gewählt worden. Jetzt aber haben das relativ viele im Wissen getan, dass die Mehrheitsverhältnisse knapp sind und was eine definitive Nicht-Wahl von Merz bedeuten würde. Nicht nur Deutschland, ganz Europa hätte eine große Krise, es würde möglicherweise zu Neuwahlen kommen, bei denen die rechtsextreme AfD auf Platz eins landet. Wladimir Putin würde jubeln.
Das Bestürzende ist, was hier einige Leute in Kauf genommen haben, ja vor allem, was hier denkbar geworden wäre. Man kennt dies auch im weniger großen Österreich: Zu Jahresbeginn hat die ÖVP unter Führung von Christian Stocker ihre Absage an eine Zusammenarbeit mit Herbert Kickl aufgegeben. Es ist zu Verhandlungen mit dem bekannten Ergebnis gekommen. Hinterher hat Stocker auf Ö3 gemeint, dass es „wahrscheinlich“ einen Abschluss gegeben hätte, wenn Kickl der ÖVP das Innenministerium gelassen hätte.
Das war ähnlich atemberaubend wie die nunmehrige Nicht-Wahl von Merz in der ersten Runde: Obwohl Kickl angetreten ist, „Volkskanzler“ zu werden, was per se demokratiefeindlich ist; obwohl er angekündigt hat, durch Notstände den Rechtsstaat auszuhebeln; obwohl er Medien schwächen und vieles andere mehr nach dem Vorbild von Trump und Orban machen wollte – insbesondere also auch die EU in ihrer bekannten Form zerschlagen sowie eine Putin-freundliche Politik betreiben – wäre für die ÖVP eine Koalition denkbar gewesen.
Da sieht man, wie knapp Österreich an autoritären und nationalistischen Verhältnissen vorbeigeschrammt ist. Wegen einer ehemaligen Mitte-Partei.
Zurücklehnen und sich sagen, es sei ja noch einmal alles gut gegangen, kann man nicht. In Frankreich werden 2027 Präsidentenwahlen stattfinden. Sofern sie doch noch antreten darf, könnte sich Marine Le Pen durchsetzen. Sonst halt ein Mann aus ihren Reihen. In Deutschland kann man heute nicht sagen, ob Merz morgen noch Kanzler sein wird; bei dem geringen Rückhalt, den er in den eigenen Reihen hat, ist alles möglich. Rumänien kippt gerade nach (weit) rechts, wo Ungarn längst ist.
Österreich befindet sich in einem Schlummerzustand: Die Wien-Wahl und das unauffällige, für manche wohltuende Agieren des schwarz-roten Teils der Regierung täuschen darüber hinweg, dass die FPÖ von Herbert Kickl bundesweit trotz allem noch immer ganz klar vorne liegt.
Dass sie das tut, obwohl bei den gescheiterten Regierungsverhandlungen deutlich geworden ist, was sie alles anrichten würde; dass ihr das nicht geschadet hat und weder ÖVP noch SPÖ davon profitieren – das ist das eigentlich Alarmierende.