ANALYSE. Wenn Nehammer die Chance nützen will, die sich durch den Regierungsbildungsauftrag eröffnet hat für ihn, wagt er einen umfassenden Neubeginn.
Karl Nehammer ist ziemlich mächtig. Das ist ernst gemeint: In seiner Partei hält sich die Begeisterung über ihn zwar in Grenzen, gibt es jedoch (schier) keine Alternativ zu ihm. Da kann die steirische Landtagswahl Ende November ausgehen, wie sie will. Es existiert definitiv niemand, der an seine Stelle treten und sich in einer Regierung unter einem sogenannten „Volkskanzler“ Herbert Kickl (FPÖ) auch nur einigermaßen behaupten könnte. Keine Johanna Mikl-Leitner, die sich schon auf Landesebene in Niederösterreich dahinkämpft, niemand.
Das stärkt die Position von Nehammer als ÖVP-Chef. Darüber hinaus hat er das Glück, dass maßgeblichen Teilen der SPÖ daran gelegen ist, eine Regierungszusammenarbeit einzugehen. Und dass wenn, dann wohl Neos ins Boot geholt wird: Wenigstens eine halbwegs frische Kraft, mit der man grundsätzlich einen Neubeginn zum Ausdruck bringen kann.
All das bedeutet noch lange nicht, dass Karl Nehammer Chef einer Regierung wird, der im Unterschied zur bisherigen mehr Zuspruch als Ablehnung entgegengebracht wird; was eine Voraussetzung dafür ist, dass eine autoritäre Wende spätestens nach der nächsten Nationalratswahl ausbleibt.
Dafür muss Nehammer weiter gehen und mit Zugängen brechen, die sein Vorgänger Sebastian Kurz geprägt hat. Grund: Sie haben letzten Endes zum Unglück beigetragen.
Für Kurz war Kommunikation fast alles. Stichwort „Message Control“. Umso verhängnisvoller waren Ergebnisse wie jene bei der Zusammenlegung von Sozialversicherungsträgern, wo anstelle einer Patientenmilliarde höhere Kosten standen. Umso verhängnisvoller war auch, dass in der Pandemie etwa auf das angekündigte „Licht am Ende des Tunnels“ immer wieder neue Lockdowns folgten. Und so weiter und so fort.
Wesentlich bei der „Message Control“-Geschichte ist auch, dass sie darauf ausgerichtet war, Menschen etwas einzureden. Es war einseitig und hat möglicherweise dazu geführt, dass nicht wenige das Gefühl haben, dass ihnen Politik nicht mehr zuhört. Sprich: Nehammer wäre gut beraten, das einzustellen und stattdessen Dialogprozesse mit Bürgerinnen und Bürgern zu forcieren.
Zu Kurz gehörte auch, dass in seiner Umgebung eher Ministerinnen und Minister tätig waren, die ihm und nicht dem Land dienten; deren Aufgabe es war, unauffällig zu sein und ihn so umso stärker strahlen zu lassen. Unter Nehammer hat sich das mit zum Teil neuem Personal fortgesetzt. In seinem Fall konnte es aber ganz und gar nicht funktionieren, weil er kein Strahlemann ist. Weil dadurch umso deutlicher wurde, wie bescheiden der Bildungsminister (Polaschek), die Verteidigungsministerin (Tanner), der Innenminister (Karner) oder die Integrationsministerin (Raab) agieren. Das sind echte Belastungen für ihn und seine Partei. Hier wird er ansetzen müssen, sofern er eine Gelegenheit dazu erhält.
Zu Kurz gehörte im Übrigen, die FPÖ zu kopieren. Nehammer hat das lange konsequent fortgesetzt, in Teilen aber im Laufe dieses Jahres aufgegeben. Er hat zumindest aufgehört, unbeholfen eine Leitkultur oder eine „Refokussierung“ der EU auf bloße Wirtschaftsthemen zu forcieren. Er hat im Wahlkampf angefangen, sich eher in der Mitte zu positionieren, um sich von Kickl zu unterscheiden. Es waren Versuche, ein eigenes Profil zu entwickeln. Im besten Fall wird er diesbezüglich selbstbewusster.
Und Reformen? Gerne heißt es, für die öffentliche Meinung seien sie relevant. Laut einer „Heute“-Umfrage wären 61 Prozent für Türkis-Rot-Pink, wenn es zu „echten Reformen“ kommt. Da muss man zwar vorsichtig sein, dürfte eine Masse darunter doch keine spürbaren Leistungskürzungen verstehen, die da und dort nicht nur zur kurzfristige Budgetsanierung notwendig werden könnten, sondern auch dafür, Spielräume für kostspieligen Herausforderungen von Sicherheit bis Pflege zu schaffen. Es bleibt jedoch ein Anknüpfungspunkt: Wenn sich sechs von zehn Österreicherinnen und Österreichern echte Reformen erwarten, ist es nicht ganz aussichtslos, eine Mehrheit für ein umfassendes Reformprogramm zu gewinnen.