ANALYSE. Hürden von gestern sind keine mehr für ÖVP und SPÖ. Gut so: Es warten viel größere Herausforderungen.
Über so viel könnte man schreiben. Zum Beispiel: Ist es nicht bemerkenswert, wie selbstverständlich die ÖVP nach bereits zwei gescheiterten Anläufen weiterhin eine bestimmende Rolle einnimmt bei den Regierungsverhandlungen? Dass einzelne Vertreter von ihr sogar eine Ablöse von SPÖ-Chef Andreas Babler fordern, weil dann eine Zusammenarbeit eher möglich wäre, wie sie behaupten? Genauso gut könnten Sozialdemokraten Schwarz-Türkise zittern lassen, mit ihrer Angst vor Neuwahlen spielen.
Das tun sie jedoch nicht. Auch wenn es ihnen wohl nie gedankt werden wird, scheinen sich Leute wie der Wiener Bürgermeister Micheal Ludwig und Gewerkschaftsboss Wolfgang Katzian diskret darum zu bemühen, dass jetzt schnellstmöglich eine Regierung gebildet wird, die von einem schwarz-türkisen Kanzler geführt wird.
Die Bankenabgabe ist diesmal kein Hindernis. Für die ÖVP hat das Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner bereits klargestellt: „Ich sehe nicht, warum wir uns hier nicht einigen könnten“, sagte er in den VN. Die Geldinstitute könnten ihren Beitrag leisten. Die SPÖ wird umgekehrt „im Wesentlichen“ die schon nach Brüssel gemeldete Budgetkonsolidierung akzeptieren. Das hat der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser für sie betont im „Ö1-Journal zu Gast“.
Es wäre auch zu lächerlich: Eine künftige Regierung steht vor viel größeren Herausforderungen als man vor zwei, drei Monaten geglaubt hat. Der Einbruch der Wirtschaft im Allgemeinen und der Industrie im Besonderen ist massiver. Das kann niemandem egal sein. Es geht nicht nur um Unternehmer, sondern auch um Beschäftigte.
Außerdem ist in den vergangenen Wochen durch FPÖ-Chef Herbert Kickl deutlich geworden, wo es Handlungsbedarf gibt: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie müssen mit allem, was dazugehört, gestärkt werden. Journalismus im ORF und bei anderen Medien etwa brauchen eine Grundlage, die nicht so einfach beseitigt werden kann. Höhere Förderungen statt Inseratenwillkür, wären eine Möglichkeit. Beim Öffentlich-Rechtlichen braucht es zudem eine Absicherung der Haushaltsabgabe sowie unter anderem eine Gremienreform, bei der parteipolitische Einflussmöglichkeiten zurückgedrängt werden – das Ganze am besten verfassungsgesetzlich abgesichert.
Und Europa: Am Wochenende hat die Sicherheitskonferenz in München stattgefunden. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass man sich im Westen nicht mehr auf die USA verlassen kann, dass man sich selbst um die eigene Sicherheit und damit auch Verteidigungsfähigkeit kümmern muss – und das in Anbetracht der Bedrohung, die von Wladimir Putin ausgeht.
Liest man im Lichte dessen das blau-schwarze Verhandlungsprotokoll, das Anfang Februar – z.B. hier – an die Öffentlichkeit gelangt ist, bekommt die Bezeichnung „Sicherheitsrisiko“ für Kickl eine noch größere Bedeutung: Nicht nur, dass er die Sanktionen gegen Putins Russland ablehnt, die aufgrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängt worden sind. Es ist vor allem, dass er grundsätzlich gegen mehr EU und gegen allfällige Schuldenprogramme für Sicherheit und Verteidigung eintritt. Dass er umgekehrt nicht vermitteln kann, wie die Neutralität, die ihm angeblich über alles geht, eine Perspektive bieten könnte.
Das ist so entlarvend: Kickl ist für eine schwache EU und auf sich allein gestellte und damit ebenfalls schwache Nationalstaaten. Die Neutralität betont er lediglich, um das zu vernebeln.
Wichtiger: Gerade in Bezug auf Europa und Sicherheit müssen ÖVP und SPÖ jetzt über sich hinauswachsen. Sich neutral geben und insgeheim davon ausgehen, dass einem, umgeben von NATO-Staaten, eh nichts passieren könne, reicht weniger denn je. Sich im politischen Tagesgeschäft gerne nur an „Brüssel“ abputzen und sich dann wundern, dass Österreich zu den Mitgliedsländern zählt, in denen die Anti-EU-Stimmung besonders ausgeprägt ist, muss vorbei sein. Es braucht eine ernsthafte Auseinandersetzung darüber, wie man Europa stärken und was man für die eigene sowie die gemeinsame Sicherheit tun kann.