ANALYSE. Was würde sich ändern, wenn Kickl jetzt nicht Kanzler werden würde? Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage ist dringlich. (Sonst ändert sich letzten Endes zu wenig.)
Viel mehr als die Absicht, FPÖ-Chef Hebert Kickl als Bundeskanzler zu verhindern, scheint ÖVP, SPÖ und Neos nicht verbunden zu haben, als sie vor wenigen Wochen vergeblich über eine Regierungszusammenarbeit verhandelten. Oder? In Wirklichkeit war neben all dem Trennenden schon noch Relevantes: Über ein grundsätzliches Bekenntnis zur europäischen Union beispielsweise mussten sie nicht diskutieren; es war da. Trotzdem fehlte ein Versprechen oder ein Vorhaben, das das dämliche Gerede von einer „Zuckerlkoalition“ vergessen und eine für eine große Mehrheit der Bevölkerung vielversprechende Konstellation daraus gemacht hätte – was dazu geführt hätte, dass Kickl, sagen wir, alt ausschaut.
Es ist nicht müßig, das zu erwähnen: Sollte der Obmann der freiheitlichen Partei jetzt nicht Kanzler werden, geht das Ganze ja wieder von vorne los. Und zwar wirklich von vorne. Bei Neuwahlen wird es dann nicht reichen, ausschließlich darauf zu setzen, dass Kickl von gut zwei Drittel der Leute abgelehnt wird.
Problem eins: Die FPÖ kann weiterhin auf eine relative Stimmenmehrheit hoffen. Falls sie eine solche halten sollte, geht damit wieder zwar kein Rechtsanspruch aufs Kanzleramt einher, die Beziehung der ÖVP zur SPÖ ist aber so schlecht, dass eine Zusammenarbeit zwischen den beiden dann einmal mehr ungewiss wäre. Was Kickl neuerlich stärken würde.
Doch zurück zur FPÖ: Die Aussicht auf eine relative Mehrheit ergibt sich daraus, dass sie mehr denn je exklusiv Positionen vertritt, mit denen sie allemal um die 30 Prozent erreichen kann. Das Vertrauen in die Politik ist schwer angeschlagen. Damit arbeitet Kickl, indem er so tut, als würde er knallhart aufräumen – als autoritärer „Volkskanzler“, der gegen „Volksverräter“ vorgeht. Zweitens: Wer Asyl, die EU oder Impfungen distanziert bis ablehnend gegenübersteht, wählt mit größerer Wahrscheinlichkeit blau. Da sind die übrigen Parteien verloren.
Diese übrigen Parteien müssen sich quasi den Rest der Stimmen teilen. Das leitet über zu Problem zwei: Die ÖVP hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder in Rechtspopulismus geübt. Es ist kläglich gescheitert. Bei der Nationalratswahl hat sie fast ein Viertel ihrer Wähler an die FPÖ verloren. Über 400.000!
Sie müsste sich jetzt neu aufstellen, was ein Stück weit allein schon gelingen könnte, wenn sie aufgrund von EU- oder etwa auch Medienfragen die Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ platzen lässt. Von einigen Wählern könnte ihr das hoch angerechnet werden. Bloß: Von der FPÖ werden diese Leute sicher nicht kommen.
Um nicht missverstanden zu werden: Hier soll keine Hoffnungslosigkeit geschürt werden, es geht um eine nüchterne Auseinandersetzung mit den Aussichten. Also weiter: Die SPÖ hat ihren Stimmenanteil von kaum mehr als 20 Prozent bei der Nationalratswahl nur halten können, weil sie – wie schon 2017 – den Grünen ziemlich viele Stimmen abgenommen hat. Diese hatten Anhänger als Regierungspartei enttäuscht. Das könnte allmählich nachlassen, was auf eine zusätzliche Herausforderung für die SPÖ hinauslaufen würde.
Die Neos haben sich auf ähnlichem Niveau wie die Grünen etablieren können. Ein zweistelliges Ergebnis ist für beide möglich. Aber das würde, wie zum Teil gerade schon angerissen, nicht auf Kosten der FPÖ, sondern von ÖVP und/oder SPÖ gehen.
Was resultiert daraus? Erstens: Die vier Parteien müssen zunächst jeweils für sich ein Angebot erstellen, dass es ihnen ermöglicht, zusammen auf mehr als 70 Prozent zu kommen, sodass die FPÖ zumindest nicht zulegen würde. Für Kickl wäre das ernüchternd. Er würde ungefähr dort stehen bleiben, wo er heute ist.
Eine wichtige Voraussetzung dafür wäre, dass sich eine glaubwürdige Aussicht auf eine Koalition ohne FPÖ ergibt. Dass im Grunde also das geliefert wird, was bei den Dreiparteien-Koalitionsverhandlungen gefehlt hat: eine Perspektive auf ein Bündnis für Österreich, das nicht nur als Absage an Kickl zieht, sondern auch für sich spricht. Drittens: ÖVP und SPÖ haben an sich selbst und ihrer Beziehung zu arbeiten.