Kurz setzt sich ab

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ANALYSE. Der Bundeskanzler sagt, dass er schon früher schärfere Maßnahmen zur Coronabekämpfung wollte. Damit gibt er sich nicht nur eine Blöße.

Wenn es nach dem Kanzler gegangen wäre, hätten wir heute schon größere Kontaktbeschränkungen zur Coronabekämpfung: „Es stimmt, dass ich schon Ende des Sommers die Maßnahmen verschärfen wollte“, erklärte Sebastian Kurz (ÖVP) am Wochenende in einem Interview mit der Tageszeitung „Österreich“. Das lässt natürlich sehr viele Interpretationen zu. Kurz wolle sich in Erwartung einer „zweiten Welle“ absetzen vom Kurs von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne); oder er habe unfreiwillig zugegeben, über mangelnde Durchsetzungskraft zu verfügen, etwa. Das ist jedoch bei weitem nicht alles.

Zunächst: Zwischen Schein und Sein gibt es einen großen Unterschied. Der 34-Jährige lebt unter anderem davon, den Eindruck zu vermitteln, dass er nicht nur Österreich, sondern auch die Regierung in eine bestimmte Richtung führt; und zwar konsequent, selbst in stürmischen Zeiten. Sein Problem ist jedoch, dass das extrem schwierig ist. Zumal er in der Regierung nur „primus inter pares“ ist.

Der Rechtswissenschaftler Manfried Welan hat vor vielen Jahren einen lesenswerten Aufsatz über die rechtliche Stellung des Kanzlers geschrieben, den man folglich auch nicht als „Regierungschefs“ bezeichnen sollte; er habe nämlich „keine Führerstellung“, wie Welan ausführt.

Die Sache ist seinen Ausführungen zufolge komplizierter: „Der Bundeskanzler darf auch gegenüber den übrigen Bundesministern keine allgemeinen Grundsätze für Politik und Verwaltung setzen, welche sie in der Art binden, wie etwa Grundsatzgesetze des Bundes die Landesgesetzgebungen. Er kann auch nicht im einzelnen in den konkreten Ablauf der anderen Ressorts eingreifen. Er hat gegenüber den übrigen Bundesministern weder die Rechtssatzform der Weisung noch die Rechtssatzform einer Richtlinie oder sonst irgendeine normative Rechtsform zur Verfügung.“

Bloß eine Art Frühstücksdirektor also? Nein, das dann auch wieder nicht. Im Gegenteil: Abgesehen davon, dass der Kanzler ja zum Beispiel dem Bundespräsidenten vorschlagen darf, einzelne Minister zu entlassen, sieht Welan eine „Koordinierungskompetenz“; und in diesem Zusammenhang wiederum eine Aufgabe, die mit dem schönen Wort „Hineinwirken“ umschrieben ist. Sprich: Er kann einzelnen Ministern zwar nichts anschaffen, sie aber dafür gewinnen, eine bestimmte Handlung zu setzen. Welan: „Seine politische Phantasie ist gefordert.“ Das ist bisweilen also eine regelrechte Kunstfertigkeit, die man erst beherrschen muss.

Nun, in der Praxis tut ein „türkises“ Regierungsmitglied – unter Umständen sogar vorauseilend -, was der Kanzler möchte. Bei Grünen, wie etwa dem Gesundheitsminister, ist das anders. Da wäre Kurz gefordert.

Womit wir wieder zu seiner Aussage zurückkehren können, dass er die Maßnahmen zur Coronabekämpfung schon früher verschärft hätte. Über dieses „Outing“ muss man sich wundern. Kurz riskiert damit so vieles. Die Nachred‘ etwa, es fehle ihm an politischer Phantasie (frei nach Welan) bzw. Geschick, trotz beschränkter Möglichkeiten als „Erster unter Gleichen“ seinen Willen durchzubringen. Wobei er sich grundsätzlich nicht genieren müsste, wenn er nicht davon leben würde, einen ganz anderen Eindruck zu vermitteln: All seine Amtsvorgänger, die in einer Koalition tätig waren, sind hier ebenfalls immer wieder an ihre Grenzen gestoßen.

Schwerwiegender für Kurz sind zwei andere Dinge in diesem Zusammenhang: Wir haben es nicht mir irgendetwas, sondern mit einer sehr großen Krise zu tun (Pandemie). mit der viele andere Krisen einhergehen (wirtschaftliche, soziale etc.). Geschlossenheit in der Regierung wäre dabei ein Faktor. Indem er sich hinterher plötzlich distanziert vom Kurs seiner Regierung, agiert er jedoch illoyal gegenüber seinen Ministerin; in Befürchtung, dass es schief geht, lässt er sie vorsorglich allein mit ihrer Verantwortung.

Das ist das eine. Das andere: Wenn er davon überzeugt war, dass ein schärferer Kurs nötig ist, hätte er allein schon aufgrund allfälliger Konsequenzen zeitgerecht die Stimme erheben müssen:  Intern gegenüber dem Koalitionspartner; oder, wenn er hier nicht durchkommt, öffentlich, wie er das nun im Nachhinein getan hat. Ja, das wäre sogar seine Pflicht gewesen. Immerhin geht es hier wie gesagt nicht um eine Bagatelle, sondern um gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Schäden, die auf falsche Entscheidungen folgen können.

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