ANALYSE. Einmal mehr scheitert die Regierung in der Pandemiebekämpfung. Diesmal wird’s gesamtgesellschaftlich brisant.
Nach bald zwei Jahren Pandemie und allem, was damit einhergeht, entwickelt sich die Stimmungslage in wachsenden Teilen der Bevölkerung bedrohlich. Ein Arzt schreibt beispielsweise in einem Mail, Ungeimpfte sollten im Falle einer Überlastung der Spitäler generell (!) Nachrang haben: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Es wäre ein zivilisatorischer Rückschritt. Umgekehrt vergleicht Herbert Kickl, immerhin Chef der drittgrößten Fraktion im österreichischen Parlament, den geplanten „Lockdown für Ungeimpfte“ mit Verhältnissen in der NS-Zeit. Ob er wirklich davon überzeugt ist, ist nebensächlich; entscheidend ist, dass er sehr viele Leute bestärkt, die dafür anfällig sind. Das ist ein Spiel mit dem Feuer.
Die Regierung hat’s schwer, ihr Scheitern in der Pandemiebekämpfung hat sie aber schon selbst zu verantworten. Es ist dem Geist von Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP) geschuldet, dass Evidenz keine Rolle spielt, sich jetzt alle einfach impfen lassen sollten und das „Licht am Ende des Tunnels“ erreicht sein muss.
Vor etwas mehr als einem Jahr hat der Verhaltensökonom Florian Spitzer auf die Gefahr hingewiesen, dass es zwar genug Impfstoff geben werde, aber zu wenig Menschen impfbereit sein könnten. Daran fühlte man sich am Dienstagabend in der ZIB2 erinnert, als eine Vertreterin des Landes Oberösterreich, wo noch immer keine 60 Prozent vollständig geimpft sind, erklärte, dass man alles getan habe, die Leute sich die Impfung jedoch abholen müssten: „Wir können sie nicht dazu hinbringen.“ These: Bei einer solchen Haltung ist alles zusammen kein Wunder.
Es gibt Möglichkeiten, Menschen zu motivieren. Die härteste wäre eine Impfpflicht. Eine solche wird im Programm der oberösterreichischen Landesregierung, aber auch bundesweit von allen Parteien, ausdrücklich abgelehnt. Erledigt. Im Burgenland, wo die Durchimpfungsrate mit über 70 Prozent um ein Achtel höher ist als in Oberösterreich, führt man gerade eine „Impflotterie“ durch. Das ist eine Variante. Ein paar Prozentpunkte hat sie gebracht.
In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron vor dem Sommer eine flammende Rede gehalten und eine Impfpflicht für das Gesundheitspersonal angekündigt. Noch am selben Abend haben 926.000 Menschen einen Impftermin gebucht. In Österreich gab es nichts Vergleichbares, nicht einmal eine eindringliche, also richtige Rede eines Regierungspolitikers. Hier versucht man es gerade mit einer 3-G-Regel für den Arbeitsplatz. Zumindest die Ankündigung zeigt keine sichtbare Wirkung: Der Anteil der Menschen, die sich pro Tag erstimpfen lassen, liegt im Mittel noch immer unter einem Zehntelprozent und ist zuletzt nur um ein paar Hundertstelprozentpunkte gestiegen. Zu Spitzenzeiten war er fünf, sechs Mal höher und belief sich auf mehr als 0,5 Prozent (siehe Grafik).
Eine mögliche Erklärung dafür findet man in Deutschland, wo das Gesundheitsministerium Impfhaltungen genauer untersuchen ließ und die Ergebnisse nun auch veröffentlicht hat. Darin findet sich der Satz, dass eine 3-G-Regel am Arbeitsplatz eher sogar kontraproduktiv sein könnte. Zitat: „Maßnahmen und Ereignisse, die Nichtgeimpfte weiter unter Druck setzen, würden sich – nach Angabe der Befragten – häufiger negativ als positiv auf die Impfbereitschaft auswirken. Insbesondere betrifft dies eine noch stärkere gesellschaftliche Ablehnung von Nichtgeimpften, eine 2-G-Regelung im Freizeitbereich, eine 3-G-Pflicht am Arbeitsplatz, einen Stopp der Lohnfortzahlung bzw. Entschädigung bei angeordneter Quarantäne sowie eine Pflicht zur Selbstzahlung notweniger Corona-Tests. Hier gibt jeweils rund ein Viertel der Befragten an, dass ihre Impfbereitschaft weiter sinken würde.“
Alles hoffnungslos? Zu den erprobten und wirkungsvollen Impfinitiativen zählt ein persönlicher Brief, in dem gleich auch ein Termin vorgeschlagen wird. Für einen solchen Aufwand ist die Pandemie in Österreich offenbar aber noch immer nicht schlimm genug gewesen: Was Parteien mit unzähligen Postwurfsendungen in jedem Wahlkampf zusammenbringen, haben sie hier unterlassen. Obwohl sie dafür ebenfalls Steuergeld einsetzen könnten. Das lässt tief blicken.
Die deutsche Untersuchung lässt den Schluss zu, dass auch durch Informationen noch einiges erreicht werden könnte. Das gängigste Argument gegen eine Impfung ist keine Verschwörungstheorie, sondern dass die Stoffe zu wenig erprobt seien. Im Übrigen gibt mehr als die Hälfte der Nichtgeimpften im Nachbarland an, dass die Zulassung von Impfungen, die auf einem klassischen Wirkprinzip beruhen (z.B. Totimpfstoffe), die Impfbereitschaft erhöhen würde. Problem eben: Es gibt sie noch nicht. Solche Motivlagen könnten jedoch Ansatzpunkte für Kampagnen liefern. Wenn man sie wahrnehmen würde. In Österreich tut man es nicht.
Hier soll die Pandemie ja schon vorbei und das Licht am Ende des Tunnels erreicht sein. Damit ist Schlimmeres vorprogrammiert: Wie in diesem Text ausgeführt, war und ist es verhängnisvoll, die Neuinfektionen auszublenden und nur zu warten, bis sich die Intensivstationen füllen. Dann ist es zu spät.
Diese Strategie ist nicht zu Ende gedacht. Darauf weist auch der Umstand hin, dass nachträglich erst Ende Oktober zwei weitere Eskalationsstufen hinzugefügt wurden – bis hin zu einem „Lockdown für Ungeimpfte“. These: Damit kann man gleich das ganze Land zusperren, es ist auch ein Drama für Geimpfte. Grund: Gut ein Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen sowie konsumfreudigeren Alter dürfte allenfalls arbeiten gehen, müsste im Übrigen aber zu Hause bleiben. Wirtschaftlicher Schaden ist damit vorprogrammiert – für ungeimpfte wie geimpfte Lokalbetreiber, Geschäftsbesitzer genauso wie für ihr Personal. Außerdem entspricht dieser „Lockdown für Ungeimpfte“ genau einer dieser Maßnahmen, die sich der deutschen Untersuchung zufolge zu allem Überdruss auch noch negativ auf die Impfbereitschaft auswirken könnte.
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