ANALYSE. Versuche von Köstinger und anderen Regierungsmitgliedern, Öffnungsschritte wissenschaftlich zu begründen, sind nicht nur peinlich. Sie zeugen von Wissenschaftsfeindlichkeit.
Man muss aufpassen, was man sagt. Wenn man zum Beispiel behauptet, die Bundesregierung habe gemeinsam mit den Ländern beschlossen, Anfang März die meisten Corona-Beschränkungen zu streichen, um von türkisen Korruptionsaffären abzulenken, dann ist das heikel. Man könnte die Geschichte auch ganz anders erzählen: Lockerungen erfolgen mehr oder weniger im Gleichklang mit vielen europäischen Staaten; mit Dänemark, den Niederlanden und der Schweiz etwa. In der Schweiz herrscht sogar schon seit heute das, was gerne als „Normalität“ bezeichnet wird. Nur noch eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und eine fünftägige Isolation nach einem positiven Testergebnis existieren noch. Wahlen stehen dort keine an. Es gibt jedoch einen Unterschied: Regierungsvertreter wie Gesundheitsminister Alain Berset reden nicht lange herum, sondern stehen dazu, politisch entschieden zu haben.
Man tut nicht so, als würde man „der Wissenschaft“ folgen. Das wäre absurd: Ein Kinderpsychologe wird Beschränkungen oder auch Lockerungen anderes beurteilen als ein Tourismusexperte oder ein Virologe. Selbst unter diesen wird es unterschiedliche Überzeugungen geben.
Am Ende des Tages bleibt an der Politik die schwere Aufgabe hängen, abzuwägen und zu entscheiden. Im besten Fall tut sie es transparent und auf Basis von ein paar Kriterien; etwa einem grundsätzlichen Raster, dem zu entnehmen ist, was ihr wichtig ist (Gesundheit, Bildung, Freiheit, Wirtschaft etc.).
Im schlechteren Fall geht sie österreichisch vor. Man kann hier nur erahnen, worum es zum Beispiel einem Landeshauptmann geht, der zunächst keine Beschränkungen haben möchte, dann für einen Lockdown nur in Verbindung mit einer Impfpflicht ist, wenig später eine solche aber wieder aus der Welt schaffen will.
Oder die Regierung. Als treuer Koalitionspartner hat Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) im ZIB2-Interview mit Armin Wolf zurückgewiesen, dass durch die Lockerungen von türkisen Problemen abgelenkt werden solle. Begründet hat er sie mit Prognosen, die von Experten erstellt worden sein sollen und die eine günstige Entwicklung „prophezeien“ würden. Wäre er Rudolf Anschober, hätte er sehr wahrscheinlich ein paar Kurvengraphiken in die Kamera gehalten. Er beließ es bei der Behauptung, die eher nicht auf den Einschätzungen seines Prognosekonsortiums basieren kann. Diese würden weiterhin Vorsicht angemessener erscheinen lassen: Genauso gut wie sinkende, könnte es steigende Infektions- und Hospitalisierungszahlen geben.
Der Wiener Bürgermeister Micheal Ludwig (SPÖ) gibt sich vorsichtig und sorgt dafür, dass die 2G-Regel für die Bundeshauptstadt bestehen bleibt. Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) zeigt sich in einem „Puls 24“-Interview empört darüber: „Ludwig wäre gut beraten, den Expertenmeinungen zu folgen.“ Dumm nur: Landauf, landab und hier etwa auf ORF.AT wird darüber berichtet, wie divers die Einschätzungen der Fachleute sind. Das liegt in der Natur der Sache.
Der Versuch, politische Entscheidungen so darzustellen, als würden sie auf einer Meinung basieren, die von der gesamten Wissenschaft geteilt wird, mag dazu ihnen, ihnen ein größeres Gewicht zu verleihen; vor allem aber ist er wissenschaftsfeindlich. Wissenschaft hat nachvollziehbar zu sein, nicht aber einer Meinung. Die Vielzahl an Disziplinen und Zugängen bringt es mit sich, dass sie zu einzelnen Fragestellungen widersprüchlich sein muss. Wer das ignoriert, betrachtet sie eher nur als Message-Control-Hilfsorgan.
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